Weil die Bundesregierung das Allgemeine Eisenbahngesetz nicht anpasst, kann Nürtingen die Bauflächen für das ambitionierte IBA’27-Projekt in der Bahnstadt nicht ausschreiben.
Noch immer ist unklar, ob im Osten der Neuen Bahnstadt in Nürtingen die dringend benötigten Wohnungen gebaut werden können. Geplant ist im Bahnhofsumfeld ein komplett neues und zukunftsfähiges Quartier. Damit das ambitionierte IBA’27-Projekt realisiert werden kann, müssen allerdings zunächst rechtliche Hürden im reformierten Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) beseitigt werden. Nürtingen hofft nun auf eine baldige Klärung durch die künftige Bundesregierung. Tangiert davon ist auch eine private Baugruppe.
Rund 180 Wohnungen sind in der Östlichen Bahnstadt vorgesehen. Die Kommune treibt dafür seit rund acht Jahren die Planungen voran. Die Stadtstruktur soll beidseits der Gleise fortgeführt und der Bahnhofsplatz und der Platz an der Alten Seegrasspinnerei sollen durch großzügige Unter- und Überführungen verbunden werden – so sieht es der Siegerentwurf des städtebaulichen Wettbewerbs längst vor.
Das ehrgeizige städtebauliche Projekt ist direkt von den einschneidenden Verzögerungen und der rechtlichen Unklarheit tangiert. Denn bislang kann die Kommune die Bauflächen nicht ausschreiben. Damit liegt auch das ehrgeizige und innovative Konzeptvergabeverfahren auf Eis, das die Kommune zum ersten Mal anwenden möchte. Vier Baufelder sollen nach dem Willen von Stadt und Gemeinderat in so einem Verfahren vergeben werden. Dabei sollen die Grundstücke anders als landläufig üblich nicht an die höchsten finanziellen Gebote, sondern an die besten Konzepte vergeben werden.
Damit zielt die Kommune auf ein neues Quartier, in dem nachhaltige, soziale und innovative Konzepte den Vorrang haben werden. Lauter Ideen, deren Mehrwert für die Bürgerschaft auf die gesamte Stadtgesellschaft ausstrahlen könnten. Eine Baugruppe hat laut Verwaltung bereits genügend Mitglieder, um planungs- und handlungsfähig zu sein.
Das Baufeld wird aber bereits vorbereitet. Dafür sind zwischen der Bahnlinie und dem geplanten neuen Wohngebiet im Bereich der neuen bahnparallelen Trasse die Bagger angerückt. Wenn beide Gebäude Plochinger Straße 31 und 37 in Kürze komplett abgebrochen sein werden, die zuvor als Wohnhaus und für die Technik des Unternehmens BayWa dienten, können die Vorbereitungen zu den Erschließungsarbeiten beginnen, teilt die Verwaltung mit.
Allerdings besteht immer noch keine Planungssicherheit für diese Flächen in der Östlichen Bahnstadt. Die Flächen befinden sich nach Angaben der Stadtverwaltung bereits im Eigentum der Kommune, aber sie seien noch nicht von Bahnbetriebszwecken freigestellt wie es das Allgemeine Eisenbahngesetz verlangt. Dass dies die städtebauliche Entwicklung auf den ehemaligen Nürtinger Bahnflächen erschwert, wurde erst im vergangenen Herbst bekannt.
Auf Gleis 13 kann gebaut werden
Nicht tangiert ist immerhin das sogenannte Grundstück „Gleis 13“, mit dem der bisherige Bahnparkplatz westlich der Gleise gemeint ist. Die Fläche zwischen Bahngleisen und Oberboihinger Straße ist von „Bahnbetriebszwecken nach § 23 Allgemeines Eisenbahngesetz freigestellt“, wie es im Verwaltungsdeutsch heißt.
Auf Gleis 13 möchte ein Stuttgarter Investor für rund 100 Millionen Euro 300 Wohneinheiten in mehreren Baukörpern auf dem rund 200 Meter langen und 30 bis 60 Meter tiefen Streifen errichten. Später könnten dort stadt- und bahnnah Studierende, Familien und Senioren gleichermaßen ein Wohnangebot erhalten.
Als die rechtlichen Hindernisse bekannt wurden, hatte Oberbürgermeister Johannes Fridrich umgehend alle wichtigen Entscheidungsträger in Bund und Land angeschrieben und dringend gebeten, die missglückte Regelung zurückzunehmen. Und damals kündigte die Bundesbauministerin Klara Geywitz in einem Telefongespräch mit Fridrich an, es werde noch einmal Hand an das Gesetz angelegt.
Passiert ist allerdings noch nichts. „Sollten keine Ausnahmeregelungen getroffen werden können, wäre das Nürtinger Bahnstadt-Projekt eines von sicherlich mehreren im Bundesgebiet, für das jahrelange Planungen, die unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entstanden sind, im Papierkorb landen (in unserem Fall ist der Planungsprozess über acht Jahre fortgeschritten), Fördergelder versenkt und Wohnungsbaupläne von Bund und Land torpediert würden, da in unserem Fall 200 geplante Wohneinheiten in einer Kommune mit angespanntem Wohnungsmarkt dadurch nicht entstehen könnten“, erklärte Fridrich dazu.
Eine neue Straße soll den Verkehr bündeln
Stadtplanerisch soll östlich der Gleise eine neue Hauptverkehrsstraße auf einer bahnparallelen Trasse entlang eines Bahndamms entstehen, die die von der Kommune erwarteten höheren Verkehrsmengen bündeln wird. Und für den ruhenden Verkehr ist auf dem Areal der Bau einer Quartiersgarage mit Stellplätzen für Anwohner und Pendler geplant.
Die Deutsche Bahn plant ihrerseits für den Anschluss Nürtingens an das S-Bahn-Netz eine Treppenanlage und einen Aufzug im Bereich der Bahnhofsunterführung. Und die Kommune will zusätzlich zwei barrierefreie Rampen zu den Teilbereichen der Tälesbahn und S-Bahn realisieren.
Planungen sind nach Angaben der Verwaltung nicht auf Eis gelegt worden, sondern „die Planungsprozesse wurden wie benannt fortgeführt“. Fest stehe auch: „Je schneller eine Änderung des § 23 AEG erfolgt, die die rechtlichen Hürden für eine Umsetzung der städtebaulichen Planung zum Projekt Östliche Bahnstadt Nürtingen deutlich reduzieren würde, umso zügiger könnte Wohnraum in Nürtingen und vielen weiteren in Deutschland betroffenen Kommunen entstehen“.
Kompliziertes Verfahren
Freistellung
Um die ehemaligen Bahnflächen kommunal nutzen zu können, ist eine Freistellung dieser Flächen von Bahnbetriebszwecken erforderlich. Laut Nürtinger Verwaltung muss in einem Freistellungsantrag nachvollziehbar nachgewiesen werden, „dass deren Interesse(n) das überragende öffentliche Interesse des Bahnbetriebszwecks des betreffenden Grundstücks übersteigt/übersteigen. Dieser Nachweis kann derzeit lediglich mit Vorhaben wie Fernstromstraßen, (bestimmter) Bundesfernstraßen und Maßnahmen der Landesverteidigung erbracht werden“, teilt die Stadtverwaltung mit.
Umzug
Das Gebäude Plochinger Straße 61, in welchem der Kreisdiakonieverband des Landkreises Esslingen und der Diakonieladen untergebracht sind, bleibt so lange bestehen, bis deren Umzug in den Neubau auf dem Gelände des Schlachthofareals voraussichtlich im zweiten Halbjahr 2026 erfolgen kann.