Im Modellprojekt Housing First sind bereits 25 Wohnungen bedingungslos an obdachlose oder wohnungslose Menschen vermittelt worden. Die neue Sicherheit ermöglicht ihnen einen nachhaltigen Neustart.
Alexandra L. ist schon ziemlich nah am Abgrund gewesen: Drogensucht, die Partnerin plötzlich verstorben, Wohnung verloren, kurz auf der Straße gelebt. Das Stuttgarter Modellprojekt Housing First ermöglicht ihr gerade einen Neuanfang. Seit dem Mai 2023 lebt die gelernte Altenpflegerin wieder in einer Wohnung, ein Zimmer steht für ihren Sohn bereit, der Rückführungsprozess läuft, damit er wieder dauerhaft bei ihr einziehen kann. Sie macht eine Substitutionstherapie. Da sie nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten kann, bereitet sie eine Umschulung zur Arbeitserzieherin vor, die Anfang 2025 beginnen soll, das hängt vom Jobcenter ab. Der eigene, unbefristete Mietvertrag gibt ihr Sicherheit. Die Unterstützungsangebote in dem Modellprojekt kann sie nach Bedarf in Anspruch nehmen, muss sie aber nicht. Sie sagt: „Housing First war meine Rettung in der Not.“
Paradigmenwechsel bei Neustart
„Das Projekt ist ein absoluter Paradigmenwechsel“, sagt die Bürgermeisterin für Soziales, Gesundheit und Integration der Landeshauptstadt, Alexandra Sußmann (Grüne). Im bisherigen System der Wohnungsnotfallhilfe ist die Unterstützung an die Teilnahme an Programmen geknüpft. Bei Housing First dagegen wird wohnungslosen Menschen zunächst ohne Vorbedingungen eine eigene Wohnung vermittelt. Aus dieser neuen Sicherheit heraus können die Betroffenen dann von sich aus und freiwillig ihre Probleme angehen.
Der bisherige Erfolg des auf vier Jahre und die Vermittlung von 50 Wohnungen angelegten Projektes spricht für sich: Seit dem Start im Jahr 2022 konnten 25 Wohnungen an 17 alleinstehende Personen, drei Paare und fünf Familien mit insgesamt acht Kindern vermittelt werden. Lediglich ein Projektteilnehmer hat die Wohnung wieder gekündigt. Die Mietzahlungen sind entweder durch eigene Einkünfte oder durch das Jobcenter gesichert. Es gibt auch einen projekteigenen Notfallfonds, über den drei Monatskaltmieten garantiert werden können.
Trotz dieser Sicherheiten ist es für das Projektteam schwer, Wohnraum in Stuttgart zu finden. 13 der vermittelten Wohnungen stammen vom Wohnungsunternehmen Vonovia, das im vergangenen Jahr eine Kooperationsvereinbarung mit Housing First für 30 Wohnungen geschlossen hat. Vier Wohnungen hat der Bau- und Wohnungsverein zur Verfügung gestellt, zwei die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG, eine die Ambulante Hilfe. Fünf Wohnungen stammen bisher von privaten Vermietern – wobei der Stuttgarter Wohnungsmarkt zu zwei Dritteln privat ist.
Daher appellieren die Bürgermeisterin und alle anderen Projektpartner an Wohnungseigentümer, auch für diese Mietergruppe offen zu sein. Es gebe oft völlig falsche Vorstellungen von Menschen mit Sucht- oder beispielsweise auch psychischen Problemen, so Sußmann. Diese Erfahrung hat auch Alexandra L. bei ihrer Wohnungssuche vor Housing First gemacht: „Man wird oft gar nicht erst eingeladen zur Besichtigung. Wenn die Vermieter Jobcenter hören, ist es oft schon vorbei.“ Sußmann sagt: „Wir müssen alle daran arbeiten, diese oft falschen Bilder aus den Köpfen zu bekommen.“
Kein Nachweis von „Wohnfähigkeit“ nötig
Das Projekt Housing First wird von einem Verbund aus dem Verein Ambulante Hilfe, der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva), dem Verein Sozialberatung Stuttgart und dem Caritasverband Stuttgart getragen. Die Landeshauptstadt hat im Doppelhaushalt 2022/2023 für die vier Projektjahre 1,8 Millionen Euro für bis zu acht Personalstellen bewilligt. Die Stuttgarter Vector-Stiftung fördert das Projekt mit 150 000 Euro. „Wohnungslosigkeit beenden ist eines der Fokusthemen der Stiftung“, betont Edith Wolf vom Stiftungsvorstand. „Housing First ist ein sehr guter Ansatz, um bedingungslos Wohnraum zu vermitteln, statt ,Wohnfähigkeit‘ nachweisen zu müssen. Wir hoffen, dass sich die kommunale Wohnungsnotfallhilfe insgesamt stärker in Richtung Housing First verändert.“
Das hofft auch die Sozialbürgermeisterin. In einer das Projekt begleitenden Arbeitsgruppe wird kontinuierlich geprüft, welche Teilbereiche wie in das bestehende Hilfesystem übernommen werden könnten. Sußmann geht davon aus, dass das Projekt auch nach den vier Jahren fortgesetzt wird, sofern der Gemeinderat dem dann zustimmt. „Mein Wunsch wäre, dass es irgendwann die neue Normalität wird“, sagt die Bürgermeisterin.
Das Projekt Housing First richtet sich an obdachlose und wohnungslose Menschen. Gesucht werden vor allem Ein- und Zweizimmerwohnungen für Alleinstehende oder Paare, immer im Rahmen der vorgegebenen Mietobergrenzen der Stadt. Dabei ist die finanzielle Situation der Mieter geklärt, die Vermieter haben immer eine Ansprechperson im Projektteam. Wer eine Wohnung für das Projekt zur Verfügung stellen will, findet weitere Informationen im Internet unter www.housing-first-stuttgart.de.