Der starke Glaube an eine Religion ist nach den Forschungsergebnissen des Esslinger Hochschulteams die Ausnahme. Viele Menschen würden sich vielmehr einen persönlichen Mix verschiedener spiritueller Elemente kreieren. Foto: imago/Design Pics

Eine Studie der Hochschule Esslingen zeigt: Individuelle Glaubensmischungen sind weit verbreitet. Was bedeutet das für die Zukunft der Religion?

Wer ist Gott? Antwort eines jugendlichen Befragten: „Der Erfinder des WLAN.“ Humor ist auch drin. Doch es geht um mehr: Mit dem Platz von Religion, Spiritualität und Gott in einer immer weltlicher werdenden Welt hat sich ein Studienprojekt des Sozialwissenschaftlers Professor Kurt Möller und Studierenden der Hochschule Esslingen befasst.

Die 20-köpfige Forschungsgruppe hat dazu über zwei Semester gut 80 Protagonisten unterschiedlicher Glaubensrichtungen und spiritueller Weltanschauungen befragt. Viele der Interviews sind in dem kürzlich erschienenen Buch „Holy Shit?! Gespräche über Gott und die Welt“ zusammengefasst.

Unermüdlicher Forscher: Kurt Möller. Foto: Ines Rudel

Erst 30 und schon Mönch. Mit einem jungen Mann aus einem Benediktinerkloster hat Katrin Maier vom Hochschulteam über zwei Stunden lang gesprochen. Seinen Platz im Leben hatte ihr Interviewpartner lange nicht gefunden. Eine Banklehre brachte nicht die gewünschte berufliche Erfüllung. In einem kirchlichen Seminar wollte er auf der Suche nach neuen Karriere-Perspektiven das Abitur nachholen. Gebete gehörten dort zur Tagesstruktur und gaben den ersten Anstoß zur näheren Beschäftigung mit dem Glauben. Der Eintritt in das Kloster folgte. Der junge Mann absolvierte eine Buchhändlerlehre, arbeitet nun im Bücherladen des Ordens, fühlt sich in der Gemeinschaft wesentlich älterer Mitbrüder gut aufgehoben. Für das Gefühl, angekommen zu sein, ist er bereit, Opfer zu bringen. Den Verzicht auf Partnerschaften und Sexualität nimmt er in Kauf: „Jeder Weg hat seinen Preis.“

Hochschule Esslingen: „Do-it-yourself“-Religionen boomen

Dieses konservative, traditionelle Ausleben des Glaubens ist laut den Forschungsergebnissen von Kurt Möller und den Studierenden die Ausnahme. Das Gros der Befragten hätte sich eine individualisierte „Do-it-yourself“-Religion gezimmert. Elemente verschiedener Strömungen und Traditionen würden zu einem persönlichen Glaubensmosaik zusammengefügt. In diesen Mix könnten Yoga, Meditationen, Tanz, buddhistische Anklänge und Teile anderer Richtungen einfließen. Kurt Möller spricht von „Transreligiosität“. Als Gründe dafür nennt er die multikulturelle und damit multireligiöse Gesellschaft, das Nachlassen des strikten Befolgens rigider Religionsdogmen, die Suche nach alternativen Glaubensformen oder auch die große Informationsflut etwa durch Internet und soziale Medien.

Dort wird laut Katrin Maier gerade ein Gedankenkonstrukt gehypt: Die „Manifestation“ werde auf Instagram und TikTok heiß diskutiert. Eine der Anhängerinnen hat ihr im Rahmen des Forschungsprojekts der Hochschule Esslingen ihre Überzeugungen dargelegt. Über eine Freundin war die 19-jährige Gesprächspartnerin auf diesen spirituellen Trend aufmerksam geworden. Wunschvorstellungen etwa nach der großen Liebe, einem zuverlässigen Freundeskreis, der steilen Karriere oder guten Noten würden durch den unerschütterlichen Glauben daran wahr, meinte die Jugendliche. Willenskraft soll die Realität verändern, durch die Kraft der Gedanken würden Sehnsüchte erfüllt. Dahinter stecke der tiefe Glaube, das Leben verdient zu haben, das man sich wünscht.

Über Zeitungsartikel, das Internet oder persönliche Kontakte hat die Forschungsgruppe ihre Interviewpartner gefunden. Die Bereitschaft, über Glaubenserfahrungen zu sprechen, sei anfangs meist gering gewesen, fasst Kurt Möller Erfahrungen der Teamarbeit zusammen. Religion scheine, ähnlich wie Sexualität, noch immer als Tabubereich zu gelten. Sei es dann aber doch zu einem Interview gekommen, hätten sich die Menschen geöffnet und seien für die Gesprächsmöglichkeit dankbar gewesen.

Warum sagt man „Grüß Gott“?

 

Von ihrer ganz persönlichen Mischung religiöser Glaubensrichtungen berichtete eine 31-Jährige. Die Interviewpartnerin von Aleksandra Simic vom Hochschulteam ist römisch-katholisch, suchte aber nach einem Sinn und einer Tiefe in ihrem Leben und nahm zufällig an einem Zen-Meditationskurs in ihrem Fitnessstudio teil. Zunächst sei sie eher skeptisch gewesen, doch nach und nach wurde ihr Interesse geweckt. Die Faszination hielt an.

Die Suche nach dem richtigen Weg: das Buchcover von „Holy Shit“. Foto: Kurt Möller/Hochschule Esslingen

Die 31-Jährige wollte zunächst für drei Monate in einem Zen-Kloster leben, ist aber dauerhaft geblieben. Sie ist dort als Lehrerin tätig, gibt die Zen-Praxis weiter, ist Teil einer „Klosterfamilie“ mit 15 bis 17 Personen. Die Tagesstruktur besteht aus Meditation, Arbeit und gemeinsamen Aktivitäten. Sie sei weiterhin katholisch, denn sie verstehe Zen nicht als Religion, sondern als Erfahrungsweg, sagte sie Aleksandra Simic. Zen diene ihr als Rückbesinnung auf das eigene Wesen, nicht als religiöser Ersatz. „Sie sieht darin keinen Widerspruch, sondern eine Vertiefung ihrer spirituellen Praxis“, erklärt Simic.

Hochschule Esslingen: „Wir missionieren nicht“

Moralische Bewertungen, Missionierungen oder ethische Kommentare verbot dem Forschungsteam der Hochschule Esslingen auch der Grundsatz wissenschaftlicher Neutralität. In das Buch sind aber auch Adressen von Hilfsorganisationen oder Beratungsstellen etwa für Sekten-Aussteiger eingefügt. Die Schattenseiten, Manipulationsmöglichkeiten oder Gefahren im religiösen Bereich dürften nicht unterschlagen werden, meint Katrin Maier.

Provokanter Titel, provokantes Buch

Person
Der 1954 geborene Professor Kurt Möller studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Germanistik in Münster und Bielefeld. Nach verschiedenen beruflichen Stationen kam er 1989 an die Hochschule Esslingen, wo er Theorie und Konzepte Sozialer Arbeit an der Fakultät Soziale Arbeit lehrt. Seit 2022 ist er zwar im Ruhestand, er betreibt aber weiter Forschungsprojekte mit Studierenden.

Buch
Das 300 Seiten starke Buch „Holy Shit?! Gespräche über Gott und die Welt“ (ISBN 978-3-98857-123-6) der Hochschulgruppe, die sich den Namen „Glaubenssache“ gegeben hat, ist im Hirnkost-Verlag erschienen. In Interviews kommen Menschen mit unterschiedlichen religiösen und spirituellen Ausrichtungen oder Überzeugungen zu Wort. Inhaltsverzeichnis, eine Einführung und eine Leseprobe finden sich unter https://www.shop-hirnkost.de/produkt/holy-shit/.