Eigentlich soll das Bürgergeld nicht nur die Existenz von Bedürftigen sichern. Die Jobcenter sollen Arbeitslose auch längerfristig und nachhaltig in Arbeit bringen. Doch oft gelingt das nicht so schnell und nicht so lange. Liegt das an den Empfängern oder am System?
Macht Bürgergeld faul? Animiert es zum Nichtstun, zur Trägheit, zum Abhängen? Werden aus an und für sich fleißigen und arbeitswilligen Menschen Coach Potatos, die den lieben langen Tag auf dem Sofa vor der Glotze hocken, Junkfood-Essen in sich reinstopfen und Bier trinken? Die von den Steuern jener leben, die jeden Morgen früh aufstehen, brav zur Arbeit gehen und sich das Kreuz krumm machen?
Sind Bürgergeld-Empfänger also Faulenzer, Drückeberger und Arbeitsverweigerer? Allesamt Hochverräter am Arbeitsideal unserer Zeit, dem Workaholic? Statt zu schuften bis zum Umfallen, zu rackern bis man aus den Latschen kippt, zu malochen und etwas aus sich machen, liegen sie lieber auf der faulen Haut?
Macht Bürgergeld faul?
Nein! „Die These, dass das Bürgergeld träge mache, stimmt so nicht“, sagt ein Sprecher von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil entrüstet.
Doch warum nimmt das Sprachrohr des SPD-Ministers – der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, gegründet 1863 als Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein, um die Interessen der hart arbeitenden Klasse und der einfachen Leute zu vertreten – überhaupt zu einer solchen steilen „These“ Stellung?
„Inakzeptable Quote“
Anlass für diese deutliche Replik war die jüngste Anfrage von Sarah Wagenknecht, Gründerin des Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), an die Bundesregierung. Der Antwort der Ampelregierung zufolge ist rund jede zweite Person in Deutschland mit Bürgergeld ein halbes Jahr nach der Aufnahme einer Arbeit weiter oder schon wieder auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Sahra Wagenknecht bewertet diese Quote als „inakzeptabel“. Es könne doch nicht sein, „dass nach nur sechs Monaten Arbeit jeder Zweite zurück im Bürgergeld ist“, schreibt die BSW-Gründerin im Nachrichtenportal „X“.
„Arbeit muss sich lohnen in Deutschland“
Für den Bundesarbeitsminister ist die Sache hingegen glasklar: Er sieht das Bürgergeld im Grundsatz richtig aufgestellt, damit Arbeitslose langfristig wieder in Lohn und Brot kommen.
Denn, wie sagte der Politikwissenschaftler Hubertus Heil (Abschluss an der Fernuniversität Hagen, 2006), der im Jahr 1998 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, im November 2022 ebendort: „Arbeit muss sich lohnen in Deutschland. Und dafür sorgt die Koalition.“
„Die Quote ist sogar gestiegen“
Heils Sprecher führt zum Beleg seiner Aussage, dass die Bürgergeld-Reform funktioniere, aktuelle Daten an: Die Mehrheit der Menschen mit Bürgergeld, die in Arbeit integriert werde, bleibe auch weiterhin beschäftigt. Sechs Monate nach einer Jobaufnahme sei dies bei fast zwei von drei Betroffenen der Fall – also bei rund 64 Prozent. „Diese Quote ist in den letzten Jahren stabil geblieben und sogar gestiegen“, so der Ministeriumssprecher.
„Haben die Betroffenen keine Motivation zu arbeiten?“
Sarah Wagenknecht lässt das Statistik-Argument allerdings nicht gelten und bohrt weiter: Sie bemängelt, dass die Zahlen „die entscheidende Frage“ nicht beantworteten: „Liegt es an den Betroffenen, die schlicht keine Motivation zu arbeiten haben? Liegt es an miesen Arbeitsbedingungen und unfairer Bezahlung? Oder bieten die Unternehmen immer noch viel zu viele befristete Stellen an beziehungsweise feuern nach Ablauf der Probezeit?“
Wer also hat Recht in dieser vertrackten Debatte? Sarah Wagneknecht mit ihrer Kritik, dass das Bürgergeld letztlich ein Flop sei, oder der Bundesarbeitsminister, der die Abschaffung von Hartz IV als einen vollen Erfolg sieht? Vielleicht hilft ein Blick in die Philosophiegeschichte.
Ist Faulheit eine Tugend oder ein Laster?
Einerseits: Faule leben und arbeiten ganz im Geist der Antike. „Arbeit“, meint Aristoteles (382–322 v. Chr.), „ist den Sklaven vorbehalten, Muße den Göttern.“ Für den griechischen Philosophen ist Muße „der Angelpunkt, um den sich alles dreht“. Auch wenn beides sein müsse, „so ist doch das Leben in Muße dem Leben der Arbeit vorzuziehen“.
Arbeiterführer Paul Lafargue (1842-1911) schrieb in seinem Buch „Le droit à la paresse“ („Das Recht auf Faulheit“, 1890): „O Faulheit, erbarme du dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!“
Andererseits: Die „ Acedia“ – lateinisch für Faulheit, Trägheit oder Nachhaltigkeit – gilt in der Tradition der katholischen Kirche als eine der sieben Hauptlaster und als schlechte Charaktereigenschaft. Dahinter stehe eine Haltung, die sich „gegen Sorge, Mühe oder Anstrengung wendet“ und darauf „mit Abneigung, Überdruss oder Ekel“ reagiert, erläuterte der katholische Philosoph Johann Baptist Lotz (1903-1992). Da die sieben Hauptlaster Ursache und somit Wurzel von Sünden sind, werden sie in der Theologie auch als "Wurzelsünden" bezeichnet.
Sanktionen für „Bürgergeld plus Schwarzarbeit“
Zurück zur Bürgergeld-Debatte: Sarah Wagenknecht lässt nicht locker und fordert Sanktionen „für diejenigen, die sich lieber im Modell Bürgergeld plus Schwarzarbeit einrichten möchten“. Zu Recht?
Für Alleinstehende war das Bürgergeld Anfang 2024 um 61 auf 563 Euro im Monat gestiegen. Bezahlt werden in der Regel zudem Wohnen und Heizung. 2025 gibt es eine Nullrunde bei der Entwicklung der Regelsätze.
Wer ist schuld: Mal wieder die Strukturen?
Weiter gefragt: Dient das Bürgergeld als zentraler Baustein für Menschen, die sich ihren Alltag möglichst so zusammenbasteln, dass sie ohne großen Aufwand gut durchkommen?
Heils Sprecher stellt unumwunden fest: „Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Bürgergeld Menschen dazu verleitet, nach kurzer Zeit wieder in den Leistungsbezug zurückzukehren.“ Ausschlaggebend dafür, dass Menschen weiterhin auf Bürgergeld angewiesen seien, seien vielmehr „strukturelle Faktoren“. Angeführt werden etwa niedrige Löhne und Teilzeitarbeit.
„Das Erwerbseinkommen reicht nicht aus“
Was also ist der Hauptgrund für einen längerfristigen Bezug von Bürgergeld? „Dies liegt oft daran, dass das Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um die Hilfebedürftigkeit der gesamten Bedarfsgemeinschaft zu überwinden“, erläutert der Ministeriumssprecher.
Viele Personen, die arbeiten, seien schlicht weiterhin auf aufstockende Leistungen angewiesen – wegen niedriger Löhne, Teilzeitarbeit oder großer Bedarfsgemeinschaften, also in der Regel Familien. „Besonders betroffen“, führt Heils Sprecher weiter aus, „sind hierbei Personen mit Kindern und geringen Entgelten, für die es schwierig ist, die Hilfebedürftigkeit vollständig zu überwinden.“
War früher alles besser?
Dabei hat sich in der vergangenen Jahren grundsätzlich wenig geändert. Sind heute etwa 50 Prozent der Personen, die bereits in den Arbeitsmarkt integriert sind, sechs Monaten nach diesem Schritt weiterhin im Bürgergeld, so lag dieser Anteil vormals nicht allzu viel niedriger. 2019 und 2020 waren es 46 Prozent. Der Anteil derer, die sechs Monate nach ihrer Integration weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, ist im Vergleich zu 2019 um vier Punkte von damals 60 Prozent gestiegen.
Auffällig ist laut Ministerium: Personen mit Berufsausbildung weisen eine höhere Quote der kontinuierlichen Beschäftigung auf. Sie verlassen den Leistungsbezug öfter. Dies fällt auch Alleinstehenden im Schnitt deutlich leichter als Personen mit Kindern.
Lohnt sich Arbeit für Bürgergelder-Empfänger?
In aller Regel bekommt man mit Arbeit im Monat deutlich mehr aufs Konto als mit Bürgergeld. Allerdings lohnt sich ein Arbeitseinkommen für Beziehende von Leistungen nicht immer:
- Große Bedarfsgemeinschaften mit Erwerbseinkommen: Hier besteht oft ein Anspruch auf ergänzende Leistungen wie Bürgergeld, Kinderzuschlag oder Wohngeld. Wenn man das zusammennimmt, bekommen die Betroffenen oft nicht viel mehr Einkommen insgesamt zusammen, wenn sie eine bestehende Arbeit etwas ausweiten.
- Alleinerziehende: Heils Ministerium wollte genau wissen, wann sich Arbeit (nicht) lohnt und gab ein Gutachten in Auftrag. Es liegt seit 2023 vor – unter dem sperrigen Titel „Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserung der Erwerbsanreize“. Die 65-Seiten-Expertise der Institute ifo (München) und ZEW (Leipzig) zeigt: Mehrarbeit lohnt sich für Alleinerziehende oft nicht.
- Beispiel einer Mutter mit zwei Kindern: Ohne Arbeitseinkommen fließen demnach 2169 Euro Sozialleistungen, bei einem Minijob-Lohn von 520 Euro bleiben 2353 Euro auf dem Konto, bei 1000 Euro insgesamt 2823 Euro - aber bei 1500 Euro Arbeitseinkommen brutto nur wenig mehr. Nämlich 2907 Euro. Die Forscher schreiben: „Es existieren also nach wie vor Einkommensbereiche, in denen sich zusätzliches Bruttoerwerbseinkommen kaum und mitunter sogar negativ auf das verfügbare Einkommen auswirkt.“
Lohnt sich Arbeiten erst, wenn das Bürgergeld noch höher ist?
Die Forscher schlagen vor, bei den Gruppen von Bürgergeld-Beziehern, bei denen es sich heute wenig lohnt, mehr zu arbeiten, im Fall von Mehrarbeit das Bürgergeld nicht so stark wie heute zu kürzen. Denn bei ihnen sei eine Ausweitung der Beschäftigung heute finanziell wenig attraktiv, „weil die erhaltenen Sozialleistungen in der Folge stark sinken“.
Eine solche Reform würde, argumentieren die Institute, die verfügbaren Einkommen von Transferempfängern in einigen Einkommensbereichen erhöhen. Erwerbsanreize und somit Beschäftigung könnten steigen. Der Staat müsse zwar mehr Bürgergeld bezahlen, aber könne auch mit mehr Steuereinnahmen rechnen.
Die Haushalte, bei denen dies rechnerisch zu erwarten ist, sind laut den Forschern jene mit Einkommen von mehr als 520 Euro pro Monat sowie Haushalte mit mehr als 2000 Euro Haushaltseinkommen monatlich. Die Institute schlagen hierfür vor, die geltenden unterschiedlichen Kürzungsraten für das Bürgergeld im Fall eines höheren Arbeitslohns zu verringern. Die Betroffenen hätten so unterm Strich am Monatsende spürbar mehr auf dem Konto.
Ist das Bürgergeld zu niedrig?
Die ifo/ZEW-Studie ist Wasser auf die Mühlen der Sozialverbände. Denn die stellten bereits im Mai 2023 fest: Das Bürgergeld ist „deutlich zu niedrig“. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Verband fordert einen „armutsfesten Regelsatz“. Die Leistungen müssten auf mindestens 725 Euro angehoben werden, „um wirksam vor Armut zu schützen“.
Höheres Bürgergeld und noch mehr?
Eine weitere „notwendige Maßnahme“ sei das „Herausnehmen der Kosten für den Haushaltsstrom aus dem Regelsatz“, fordert der Paritätische Wohlfahrtsverband. Er sollte aufgrund des „inflationären Anstiegs der Strompreise“ zu den Kosten der Unterkunft hinzugerechnet werden.
Mit der Einführung des Bürgergelds habe sich für Betroffene nicht viel im Alltag verändert, kritisieren die Sozialverbände. „Ein grundlegender Bruch mit Hartz IV ist nicht vollzogen worden“, meinte der damalige Hauptgeschäftsführer vom Paritätischen Gesamtverband, Ulrich Schneider.
2025 bleibt alles beim Alten
Also ist noch mehr Bürgergeld des Rätsels Lösung? Das glaubt inzwischen selbst Hubertus Heil nicht mehr. 2025 soll es beim Bürgergeld eine Nullrunde geben. Mitte Oktober stimmte der Bundesrat einer entsprechenden Verordnung des Bundesarbeitsministeriums zu.
Offiziell verkündigt die Bundesregierung auf ihrer Homepage: „Die Höhe des Bürgergeldes und der Sozialhilfe bleibt 2025 unverändert. Das ist das Ergebnis der diesjährigen, gesetzlich vorgegebenen Fortschreibung der Regelbedarfsstufen.“