Mit Wiener Würstel in der Hand und Gurken-Spezialitäten auf dem Teller macht Literatur noch mehr Spaß. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Jedes Jahr zur Sommerzeit erkunden Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung ungewöhnliche Schauplätze in der Stadt. Diesmal machte die Reihe „Erlesene Orte“ bei Hengstenberg Station.

EsslingenWer in der Chronik des Esslinger Wirtschaftslebens blättert, kommt an Hengstenberg nicht vorbei: Mit Sauerkraut, Rotkohl, Essig und Gurken schreibt das Familienunternehmen seit 1876 seine Erfolgsgeschichte. Der Schauspieler Gerhard Polacek ist in Wien aufgewachsen, doch selbst dort war ihm das Unternehmen ein Begriff: „Die Essiggurken kannte ich schon lange, bevor ich Esslingen kennengelernt habe.“ Mittlerweile ist Polacek Esslinger durch und durch, und gemeinsam mit der Stadtbücherei und der Eßlinger Zeitung erkundet er jedes Jahr zur Sommerzeit „Erlesene Orte“. So nennt sich eine Veranstaltungsreihe, die Literatur an ungewöhnlichen Schauplätzen präsentiert. Jeder Abend bleibt ein einmaliges Erlebnis, die Zahl der Eintrittskarten ist begrenzt. Meist sind die Tickets in wenigen Minuten vergriffen. So war’s auch beim letzten „Erlesenen Ort“ dieses Jahres: der Firmenzentrale von Hengstenberg an der Mettinger Straße.

Ging man früher übers Hengstenberg-Areal, lag stets ein Hauch von Essig in der Luft. Mittlerweile ist dort ein modernes Stadtviertel mit Wohnungen, Büros und der VHS entstanden – Sauerkraut, Essig und Gürkchen wandern anderswo in Glas und Dose. Doch das Herz des Unternehmens schlägt nach einem Intermezzo in den Neckarwiesen inzwischen wieder an der Mettinger Straße. In der obersten Etage der Hengstenberg-Zentrale empfing Gerhard Polacek seine Gäste. Und auch wenn der neue Firmensitz historische und moderne Bausubstanz verbindet, mag sich mancher gefragt haben, ob ein Bürogebäude die passende Kulisse für einen stimmungsvollen literarischen Abend abgeben kann. Doch solche Zweifel waren im Handumdrehen zerstreut, denn aus der obersten Etage des Hengstenberg-Hauses sieht man die Stadt aus reizvollen Perspektiven, die nur die Allerwenigsten kennen: Hinauf zu den steilen Weinbergen, hinüber Richtung Neckar, hinein ins Hengstenberg-Areal und vor allem hinweg über das Schlachthof-Areal und die Weststadt zur Silhouette der Esslinger Altstadt. Weil ein Balkon rund ums Gebäude führt, konnten die Gäste der „Erlesenen Orte“ die überraschenden Stadtansichten schon vor der Lesung ausgiebig genießen.

Dass bei einem Besuch bei Hengstenberg die Liebe zur Literatur auch durch den Magen gehen muss, ist fast schon selbstverständlich. Deshalb begann das Programm in der Showküche des Hauses. Dort erwartete Gerhard Polacek sein Publikum stilecht in weiße Koch-Montur gewandet hinterm Herd – in einem großen Topf dampften leckere Wiener Würstel. Dazu durfte sich das Publikum an einem Gürkchen-Buffet bedienen – den passenden Senf gab im wahrsten Wortsinn Steffen Hengstenberg dazu, der im Verwaltungsrat die Geschicke des Unternehmens wesentlich mit bestimmt. Und während es sich die Zuhörer noch schmecken ließen, erzählte Gerhard Polacek von der Bedeutung guten Essens für die Mitarbeiter eines Unternehmens und von den Anfängen der Werkskantinen.

So überraschend wie die Schauplätze ist auch die Auswahl der Texte, die Polacek stets auf den jeweiligen „Erlesenen Ort“ abstimmt. Der Schauspieler schöpft aus einem prall gefüllten Schatzkästlein voll literarischer Preziosen, die nur die Wenigsten auf der Rechnung haben – wobei er die Erwartungen seiner Zuhörer gerne auch mal gegen den Strich bürstet. Dass sich diesmal alles ums Essen drehte, war selbstverständlich. Doch dieses Sujet ist voller Überraschungen – keine Spur von genussseligem Schwelgen in allen erdenklichen Köstlichkeiten. Stattdessen klingt allenthalben des Wiener Schauspielers Hang zum schrägen, bisweilen auch skurrilen Humor durch.

Da lässt Polacek etwa den gesellschaftskritischen bayerischen Autor Oskar Maria Graf von einer Begegnung mit dem jungen Hitler erzählen – während der spätere Diktator schon mal seine krude Weltsicht im unverwechselbar schnarrenden Tonfall ausbreitet, merkt er gar nicht, dass sein Gegenüber nur jemanden sucht, der ihm Malzkaffee und Schmalznudeln im Gasthaus finanziert. Oder Jaroslav Haseks Erzählung vom Todeskandidaten in der Zelle, der seine Henkersmahlzeit mit immer neuen Essenwünschen so lange ausdehnt, bis er sich an einer alten Leberwurst vergiftet und nur mühsam gerettet werden kann. Der Metzger, der die vergammelte Wurst verkauft hatte, muss ins Gefängnis, der Arzt, der den Todeskandidaten gerettet hat, wird belobigt – und der Häftling wird doch noch hingerichtet, nachdem man ihn mühsam aufgepäppelt hatte.

Ringelnatz zeigt skurrile Seiten

Geschichten wie diese liebt Gerhard Polacek – und sein Publikum kommt genau deshalb zu den „Erlesenen Orten“. Da blättert der Romantiker Clemens Brentano in „Die Gasterei“ ein Panoptikum menschlicher Absonderlichkeiten auf, wenn sich Charaktereigenschaften zum Festmahl treffen. Ein andermal zeigt sich Joachim Ringelnatz in „Silvester bei den Kannibalen“ von seiner schwarzhumorigen Seite. Oder wie wäre es mit Doris Dörries Kurzgeschichte „Mit Messer und Gabel“, in der die Filmemacherin zeigt, wie sehr Essgewohnheiten des Partners auch die größte Liebe beeinflussen und im schlimmsten Fall sogar zum Erliegen bringen können? Und natürlich durfte auch Polaceks Landsmann H. C. Artmann im Programm nicht fehlen, an dessen Texten der Schauspieler und sein Publikum so viel Gefallen fanden, dass beide stundenlang hätten weitermachen können, während draußen die Sonne unterging und Esslingen in einem anderen Licht zeigte. Doch irgendwann geht auch der schönste Literatur-Abend zu Ende. Zum Abschied gab’s für jeden Gast ein Tütchen voller Köstlichkeiten aus dem Hengstenberg-Sortiment. Und den Zuhörern blieb neben dem Genuss von Gürkchen in allen Variationen schon mal die Vorfreude aufs kommende Jahr, wenn Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung erneut nach „Erlesenen Orten“ Ausschau halten werden.