Sieben Stühle, sieben Gäste: Esslingens bekannteste Stadtführerin Heidi Gassmann lädt historisch Interessierte zu Vorträgen über die Stadtgeschichte in ihr Wohnzimmer ein.
EsslingenFünf Stühle waren eh schon vorhanden, zwei weitere wurden kurzerhand aus dem Gartenhaus entführt, zurecht gesägt und mit neuen Sitzbezügen versehen: Jetzt sind sieben Sitzgelegenheiten zusammen. Viel mehr Platz gibt es aber auch nicht im Wohnzimmer von Heidi Gassmann. Inmitten einer beeindruckenden Sammlung von Fossilien, Edelsteinen, Gemälden und Reiseandenken aus der ganzen Welt passen mit Müh‘ und Not acht Menschen rund um den kleinen Tisch. „Sieben Stühle hab‘ ich, also kann ich sieben Leute einladen“, dachte sich Heidi Gassmann, eine der bekanntesten und mit ihren 90 Jahren die älteste der Esslinger Stadtführerinnen. Ihre Rundgänge im Auftrag der Stadtmarketing und Tourismus GmbH und ihre mit Anekdoten und Schnurren aus dem alten Esslingen gespickten stadtgeschichtlichen Vorträge bei der Volkshochschule sind legendär. Ob Ambrosius Blarers Zuchtamt, die Hexenverbrennungen, die Frauenklöster, der 30-jährige Krieg oder die Reformation – den unterschiedlichsten Themen hat die leidenschaftliche Erzählerin schon Vorträge gewidmet. „Und immer wieder sprechen mich Leute an und bedauern, dass sie ein Referat verpasst haben“, erzählt sie. Deshalb lädt die profunde Kennerin der Esslinger Stadthistorie Interessierte nun zu sich nach Hause ein: zum Vortrag im kleinsten Kreis, den sie mit verschmitztem Lächeln „Home-Talk“ nennt.
Sieben Frauen sind an diesem Nachmittag zu Gast, zu einem Gespräch über „Das armselige Weiber-Leben im Mittelalter“, dem Heidi Gassmann gleich eine Warnung vorausschickt: „Das ist ein schauerliches Thema.“ Die sieben Damen schreckt das nicht, aufmerksam sind sie bei der Sache als Heidi Gassmann ihre handschriftlichen Notizen zur Hand nimmt. „Im Mittelalter war eine einfache Frau schlicht ‚das Weib‘ und ‚weniger wert als Ochs‘ und Pferd‘, wie es in einem alten Reim heißt“, erklärt Gassmann die Stellung der Frau. „Der Begriff ‚Mädchen‘ geht auf ‚Mägdelein‘ zurück: Mädchen waren damals Magd und Arbeitskraft.“ Zuhörerin Waldtraut Mayer kann dazu einen alten Spruch ergänzen: „Weiber sterben, kein Verderben. Ross verrecken, das ist Schrecken.“ Frauen wurden im Mittelalter gering geschätzt, „denn sie waren schuld an der Erbsünde, so zumindest schrieben es die Christenmänner, Bibelschreiber und Religionsträger“, erklärt Heidi Gassmann, die als pensionierte Lehrerin für Stadt- und Heimatkunde in den Archiven forscht und auf jede Nachfrage aus der Runde eine Antwort weiß.
Erschüttert lauschen die Zuhörerinnen diesen Geschichten aus dem alten Esslingen: „Viele Frauen starben bei Geburten, die häufig mit nachbarschaftlicher Hilfe in der Küche stattfanden. In Esslingen gab es erst nach 1600 die erste Hebamme.“ Von Kellers Bärbel wird erzählt, die enthauptet wurde, weil sie ihr Kind, das sie völlig allein zur Welt gebracht hatte, hinter ihr Bett abgelegt hatte, wo es starb. Vom toten Neugeborenen, das beim Ausschöpfen der Latrinengrube gefunden wurde. Vom Schicksal der Streunerin und Bettlerin Maria Barbara Müller, die vom Teufel sprach und deshalb von den frommen Esslingern in den Turm gesperrt und zum Tod verurteilt wurde: „Zum Gnadentod durch Enthauptung wohlgemerkt, nicht zum langsamen Erhängen oder Ertränken“, ergänzt Heidi Gassmann. Und sie berichtet von Christiane Ruthardt, deren Mann ihr Geld durchbrachte, und die sich – weil eine Scheidung unmöglich war – nicht anders zu helfen wusste, als ihn mit Arsen zu vergiften. Sie wurde vor dem Criminal-Senat des Königlichen Gerichtshofes in Esslingen schuldig gesprochen und mit dem Schwert enthauptet.
„Ich möchte Betroffenheit wecken und zum Nachdenken anregen über Stellung und Schicksal dieser Frauen damals“, sagt Heidi Gassmann am Ende. Und sie erinnert daran, dass die Stadt sich nur überaus langsam veränderte, und zitiert aus einem Text aus dem 19. Jahrhundert, in dem Esslingen als „verhockte, verbockte Gesellschaft“ charakterisiert wurde. Weil es ihr jedoch ein Herzensanliegen ist, ihre Gäste mit einer versöhnlichen Geschichte nach Hause zu entlassen, erzählt sie als Abschluss von Helena Sophia, die nach zwei Ehen kein drittes Mal heiratete, „sondern ihr Dasein als reichste Witwe Esslingens genoss“.
Die Besucherinnen an diesem Nachmittag fragen nach, bringen eigenes Wissen mit ein, diskutieren angeregt miteinander und sind trotz der todtraurigen Frauen-Geschichten begeistert: „Heidi Gassmann ist einfach unglaublich. Was sie alles weiß. Und es ist wunderbar, wie anregend sie erzählen kann“, schwärmt Waldtraut Mayer hinterher. „Da wird Geschichte plötzlich ganz lebendig“, freut sich Gisela Mehlo. Und Margrit Luick-Gregorius wünscht sich, dass Heidi Gassmann diesen Wissensfundus bewahrt: „Sie müssen diese Geschichten aufschreiben oder auf Tonband aufnehmen, damit das nicht verloren geht und damit möglichst viele Menschen das erfahren können.“