Die Möglichkeit häuslicher Pflege hängt nicht nur von professionellen Kräften ab, sondern auch vom sozialen Umfeld. Foto: Harald Oppitz/KNA

Fast alle Menschen wollen zuhause gepflegt werden, wenn sie Pflegefälle werden oder bereits sind. Die häusliche Pflege setzt allerdings nicht nur leistungsfähige professionelle Pflegedienste voraus, sondern oft auch ein engmaschiges soziales Netzwerk.

Daheim bleiben und bloß nicht ins Heim: Das ist das Ergebnis der groß angelegten, in diesem Jahr vorgestellten VdK-Studie zur häuslichen Pflege. Nur zehn Prozent der Menschen in Deutschland können sich demnach vorstellen, ihren Lebensabend in einem Heim zu verbringen. Besonders eindrucksvoll: Unter den tatsächlich Pflegebedürftigen sind es der Erhebung zufolge nur 2,3 Prozent, die in einer stationären Einrichtung versorgt werden wollen. Die Motive liegen auf der Hand: Es geht um Selbstbestimmung und Selbstgestaltung der Lebensräume, um vertraute Umgebung und vertrautes soziales Umfeld.

Den Heim-Horror in die Schranken weisen

Alles nachvollziehbar, eine klare Richtungsvorgabe für zukunftsorientierte Pflegekonzepte. Doch bei aller Akzeptanz für Wille und Vorstellung der alternden Menschheit weisen Fachleute den unheimlichen Heim-Horror energisch in die Schranken – nicht nur, weil er die Institutionen und ihr Personal pauschal in Misskredit bringt. Franziska Hezinger, Altenhilfeplanerin des Landkreises Esslingen, weist darauf hin, dass Heime aus Gründen der Zeitintensität der Pflege und der Sicherheit medizinischer Pflegeleistungen in etlichen Fällen erste Wahl sind und bleiben werden. Beispielsweise sei eine sogenannte Tag-Nacht-Umkehr bei demenzkranken Menschen – nachts aktiv, tagsüber schläfrig – auch für die einsatzbereiteste häusliche Pflege kaum zu bewältigen. Rita Latz vom Pflegestützpunkt der Stadt Esslingen sagt, dass keiner der Esslinger ambulanten Pflegedienste derzeit Nachtwachen oder gar eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung leisten könne.

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„Die Leute haben keine oder weniger Kinder, die sie pflegen könnten“

Doch nicht nur die Pflegebedürftigkeit entscheidet, ob der Wunsch nach möglichst weitgehender Autonomie in den eigenen vier Wänden erfüllt wird. Der wohl wichtigste Faktor ist das soziale Umfeld, dessen Hilfsbereitschaft und Einsatzfähigkeit. Denn der „größte Pflegedienst der Nation“, sagt Rita Latz, „ist nach wie vor die eigene Familie“. Aber im wachsenden Widerspruch zwischen individuellem Anspruch und demographischer Wirklichkeit lockern sich heutzutage die trauten Familienbande, wobei ein zunehmend mobiler Lebensstil die Lage noch verschärft. „Die Leute haben weniger oder gar keine Kinder, die sie im Alter pflegen könnten. Oder die Kinder wohnen weit weg“, erklärt Hezinger. Kümmern sie sich trotzdem um Vater, Mutter oder beide, hat sich dafür in der Fachwelt bereits ein wunderbar zeitgeistiger Anglizismus eingebürgert: Distance Caregiving – aus der Ferne organisierte Pflege, ein weites und wachsendes Feld.

„Ambulante Pflegedienste sind an der Kapazitätsgrenze“

Dass im Kreis Esslingen laut Hezinger das Gros der Pflegebedürftigen zuhause versorgt wird, lässt auf engagierten Einsatz von Familien, Nachbarn und weiterem Umfeld schließen. Denn: „Die ambulanten Pflegedienste im Kreisgebiet sind an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt“, sagt die Altenhilfeplanerin.

„Auch mal Dampf ablassen“

Sie rät, sich beizeiten ein soziales Netzwerk aufzubauen oder zu erhalten – durch Kontaktpflege statt Rückzug in eine manchmal auch selbstgewählte Alterseinsamkeit, durch Ansprechen von Themen wie gegenseitige Hilfe oder regelmäßige Besuche, durch Offenheit statt verdruckster Scham, Scheu oder Peinlichkeitsempfinden. Den Wunsch der Menschen nach häuslicher Pflege könne auf Dauer nur eine Aufgabenteilung erfüllen, sagt Hezinger, denn die Zahl pflegerischer Fachkräfte werde selbst im Idealfall der demographischen Entwicklung mit immer mehr Seniorinnen und Senioren nicht hinterher kommen. Die pflegerischen Soft Skills – Geselligkeit, Begleitung auf Spaziergängen, vielleicht auch Kochen und Einkaufen – seien Tätigkeitsfelder für ehrenamtlich Engagierte, sagt die Expertin. Die ambulanten Fachkräfte kämen dann bei der pflegerischen oder medizinischen Versorgung im engeren Sinne zum Einsatz. Es sei daher Aufgabe der Kommunen, Netzwerke von Ehrenamtlichen zu knüpfen und zu fördern. Pflegende Angehörige und Ehrenamtliche wiederum sollten sich nicht scheuen, Beratungs- und Kursangebote in Anspruch zu nehmen – und sei es, „um mal Dampf abzulassen, denn auch das ist wichtig“.

Warum sich schwäbische Sparsamkeit schnell verrechnet

Noch wichtiger dürfte beim Thema „Häusliche Pflege“ eine ganz andere, aber elementare Größe sein: das Geld. Wenn sich schwäbische Sparsamkeit in hohen häuslichen Pflegequoten ausdrückt, beruht das den Expertinnen zufolge oft auf einer Fehlkalkulation, zumindest in den beiden oberen der fünf Pflegegrade, während in den unteren eine Heimunterbringung sowieso kaum in Frage kommt. „Daheim ist billiger“: Dieser populäre Kostenvergleich liegt als pauschale Aussage falsch. Rita Latz sagt: „Ein allgemeiner Vergleich ist überhaupt nicht möglich, es kommt stets auf den besonderen Einzelfall an.“ Klar ist nur: Altwerden ist teuer und „die Pflegeversicherung nur eine Teilkaskoversicherung“.

In der Tat: Durchschnittlich 3000 Euro Eigenbeteiligung pro Monat in den Pflegeheimen der Region und keineswegs in jedem Fall geringere häusliche Pflege-, Wohn- und Unterhaltskosten reißen gewaltige Löcher in den Sparstrumpf. Die Rente reicht dafür nur bei wenigen. Auch Eigenheime fließen häufig in die Pflege ein. Und wo nichts ist? „Immer öfter“, so Latz, „wird beim Sozialamt Hilfe zur Pflege beantragt.“ Sie rät nicht nur im sozialen, auch im monetären Bereich zur Vorsorge: „Rechtzeitig Rücklagen bilden!“

Fallbeispiel, Statistik und Beratung

Zuhause gepflegt
Die 79-jährige Antonia G. (Name geändert) musste die Seite wechseln: Ein Berufsleben lang war sie Pflegerin, seit drei Jahren nimmt sie Pflege in Anspruch. Gelenkerkrankungen führen zu schweren Einschränkungen der Beweglichkeit. Vier Mal pro Tag kommt der ambulante Dienst: zum Waschen, Frühstück machen, Strümpfe ausziehen, ins Bett legen. Das Pflegeheim ist für Antonia G. nur die letzte Möglichkeit: „Ich bleibe daheim, so lange es geht.“

Zahlen
 471 913 Menschen in Baden-Württemberg – 4,3 Prozent der Bevölkerung – sind laut der neuesten vorliegenden Pflegestatistik von 2019 pflegebedürftig, 57 Prozent bei den Über-80-Jährigen. 80 Prozent werden zu Hause gepflegt, 55,3 Prozent ausschließlich durch Angehörige oder Bezugspersonen. Im Kreis Esslingen leben demnach 20 908 Pflegebedürftige, davon 4041 in Heimen. 11 316 Menschen werden im Landkreis durch Angehörige oder Bezugspersonen gepflegt.

Hilfe
 Pflegestützpunkt der Stadt Esslingen (pflegestuetzpunkt@esslingen.de, Tel. 0711/3512-3219 oder -3220) sowie 15 weitere Pflegestützpunkte im Kreis. Umfassende Informationen bietet der Esslinger „Wegweiser für Seniorinnen und Senioren“ (Download über www.esslingen.de).