Aufgegebene Häuser in Burnley verdeutlichen den Niedergang der einst stolzen Industriestadt. Foto: IMAGO/AshleyCooper

Unmittelbar vor den Wahlen zum Parlament ist die Stimmung im Königreich miserabel. Zwei sehr unterschiedliche Wahlkreise zeigen: die Konservativen stürzen ab, Labour profitiert. Und im Hintergrund wartet noch ein alter Bekannter der britischen Politik

Wenn Großbritannien an diesem Donnerstag zur Wahl geht, will sich die Labour Party an Orten wie Burnley für die Demütigung revanchieren, die sie im Dezember 2019 erlitt. Damals gelang es den Konservativen unter Boris Johnson, fünf Dutzend „rote“ Hochburgen Nord- und Mittelenglands, die „red wall“, zu erobern – und sich mit Hilfe dieses Erfolgs eine stolze Mehrheit zu verschaffen.

In den alten Industriegebieten des Nordens, die ihren historischen Niedergang nie verschmerzten, brachte die Brexit-Kampagne und die Verheißung eines nationalen Neubeginns außerhalb der EU den Tories damals Millionen zusätzlicher Stimmen. Familien aus der Arbeiterklasse, die immer Labour gewählt hatten, entschieden sich dafür, Johnson eine Chance zu geben. Das galt auch für Burnley, das zu Zeiten der industriellen Revolution einmal für seine Webereien und seinen Maschinenbau bekannt war.

Burnley sucht mühsam eine neue Rolle

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte die Stadt in der nordwestenglischen Grafschaft Lancashire für sich in Anspruch nehmen, die größte Produzentin der Welt für Baumwollkleidung zu sein. Die alten Werften am legendären Leeds and Liverpool Canal, die Herrschaftsgebäude der Fabrikbesitzer zeugen noch immer von dieser Zeit.

In der postindustriellen Ära aber sucht Burnley mühsam nach einer neuen Rolle. Die Hoffnung auf einen Aufschwung durch den Brexit fiel auf fruchtbaren Boden. Zwei Drittel aller Wähler entschieden sich in Burnley 2016 für den EU-Austritt – während es landesweit nicht viel mehr als die Hälfte war.

Viele Wähler sind desillusioniert, Brexit-Befürworter ernüchtert

Inzwischen sehen selbst die damals überzeugten Brexit-Befürworter, dass der Austritt die seinerzeit geweckten Erwartungen nicht erfüllt hat. Zudem hat das Chaos bei den Konservativen, die sozialen Probleme und der desolate Zustand der öffentlichen Verwaltung viele Wähler desillusioniert.

„So kann es jedenfalls nicht weitergehen“, meint Rose, eine junge Mutter, die mit ihren beiden Kindern an diesem Nachmittag zum Fish’n’Chips-Essen in die Markthalle gegangen ist. „Wir kommen kaum mit unserem mageren Einkommen aus.“ Ihre Freundin Sarah, die als Verkäuferin arbeitet, geht davon aus, „dass die Konservativen dieses Jahr nicht mehr viel holen werden“. Sie hätten „alles Vertrauen verspielt“. Mehrere ihrer Bekannten müssten zur Food Bank, zur freien Essensausgabe, gehen, weil sie die Gas- und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können. „Geburtstagsgeschenke für die Kinder sind ein Luxus geworden. Urlaub gibt es sowieso nicht mehr.“

Rechtspopulisten im Aufwind

Ihr Vater, fügt Sarah hinzu, sei zwar noch unschlüssig, wen er wählen solle. Für ihn sei Burnleys konservativer Abgeordneter Antony Higginbotham zumindest ein Ortsansässiger, „einer, der sich hier auskennt“ – während der Kandidat der Labour Party „keine Ahnung“ habe, weil er ein Zugereister sei. Aber sie selbst habe ihrem Vater erklärt, dass jetzt unbedingt „etwas anderes, etwas Neues“ kommen müsse. Drei Jugendliche am Nachbartisch winken ab und tönen herüber: „Mit Labour kriegt ihr nichts Neues. Das einzige, was jetzt noch hilft, ist Nigel Farage.“

Tatsächlich können die Rechtspopulisten der Farage-Partei Reform UK damit rechnen, in Burnley auf ein Fünftel aller Stimmen zu kommen – auf ebenso viele Stimmen wie die Konservative Partei. Antony Higginbotham, der Tory-Abgeordnete, ist sich dabei bewusst, wie enttäuscht viele seiner ehemaligen Wähler über die Konservativen sind. Ihm gehe es nicht anders.

Ärger mit muslimischen Wählern

Allerdings hat auch Labour in Burnley ein Problem. Die Moslems der Stadt, 14 Prozent der örtlichen Bevölkerung, haben es dem Labour-Vorsitzenden Sir Keir Starmer äußerst übel genommen, dass er sich so lange weigerte, einen Waffenstillstand im Gazakrieg zu fordern. Gleich elf Labour-Stadträte verließen im November in Burnley aus Protest gegen Starmer die Partei. Und die erbosten Sprecher der moslemischen Verbände empfehlen die Stimmabgabe für den Kandidaten der Liberaldemokraten, der sich demonstrativ auf ihre Seite gestellt hat.

Damit, meint Mike Makin-Waite, ein örtlicher Autor und intimer Kenner Burnleys, habe die Labour Party die Sympathien eines besonders treuen Teils ihrer Anhänger aufs Spiel gesetzt und womöglich sogar den eigenen Wahlsieg in Burnley gefährdet. Oliver Ryan, der Labour-Kandidat in Burnley, versichert zweifelnden Wählern jedenfalls, dass er für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza plädiert habe und Waffenexporte unterbinden wolle.

Wechsel in der Garnisonsstadt?

Ortswechsel: Vierhundert Kilometer sind es in Richtung Süden von Burnley nach Aldershot, der „Heimstatt der britischen Armee“. Die Garnisonsstadt, eine Autostunde von London, lebt vom Stolz auf die Streitkräfte. Weitflächige Kasernen-Viertel, in denen Tausende von Armee-Angehörigen mit ihren Familien leben, Sport- und Trainingsgelände, Reitplätze, Militär-Friedhöfe und Kriegsdenkmäler scharen sich um eine Kleinstadt, die in der viktorianischen Ära, auf dem Höhepunkt des Empire, aufblühte.

Wellington Street, Windsor Way oder Gun Hill (Kanonenhügel) heißen die Straßen. Im Postamt verkaufen sie außer Briefmarken auch Stoff-Mohnblumen zum Gedenken an die Gefallenen und königliche Souvenirs. Der konservative Abgeordnete Aldershots, Leo Docherty, ist selbst Veteran (er kämpfte in Irak und Afghanistan) und wurde von Premierminister Rishi Sunak zum Staatssekretär für die Streitkräfte berufen.

Ehemalige Hochburg der Konservativen im Wandel

Für Docherty ist „eine starke nationale Verteidigung“ entscheidend für das Wohl des Vereinigten Königreichs. Als Patriot habe er sich für den Austritt aus der EU stark gemacht, „weil einzig und allein unsere britischen Wähler die Kontrolle über britische Gesetze, Grenzen und Geld haben sollen“.

17 000 Stimmen mehr als die Labour Party erhielt Docherty 2019, bei den letzten, für den Brexit entscheidenden Unterhauswahlen. Das schien den Torys vor Ort durchaus selbstverständlich, denn Aldershot hat in den vergangenen hundert Jahren nie anders als konservativ gewählt. Der Ort sitzt mitten in Südenglands „blue wall“, dem Tory-blauen Territorium ländlicher Hochburgen. Als Margaret Thatcher nach dem Krieg um die Falkland-Inseln die Nation 1983 an die Urnen rief, kam Labour, das für eine diplomatische Lösung plädiert hatte, in Aldershot gerade mal auf 10,8 Prozent.

Eine Mittelschicht in Angst und wütende Veteranen

Umso panischer sehen Dochertys Konservative nun eine „rote Welle“ auf ihr Land zurollen, die nicht nur die von Labour eroberten Gebiete im Norden wieder rot einfärben, sondern womöglich weite Teile des Südens mitreißen könnte. Ein nicht zu ignorierender Zorn über die Torys liegt in der Luft. Von gesunkenen Einkommen, unbezahlbaren Wohnungshypotheken, einer auch die Mittelschicht ängstigenden Inflation ist die Rede. Das Gesundheitssystem sei eine Katastrophe – und die Regierung habe die Angehörigen der Streitkräfte und ihre Familien finanziell im Stich gelassen.

Besonders übel genommen hat man Regierungschef Sunak in Aldershot, dass er den D-Day-Feiern in Frankreich im Juni vorzeitig den Rücken kehrte, nur um in England ein weiteres Wahlkampf-Interview zu absolvieren. Das wurde als krasse Respektlosigkeit gegenüber den Veteranen empfunden.

Labour-Kandidatin ist zuversichtlich

Immer mehr seiner Gäste machten kein Geheimnis mehr daraus, dass sie „genug von den Torys“ hätten, berichtet der Barkeeper Ryan Lyddall im Café Karuna auf der Wellington Street. Auch unter Leuten, die früher für die Konservativen gestimmt hätten, sei „der Unmut heute enorm“. Zwar sehe er wenig Enthusiasmus für Starmers Labour Party. Aber Zweifel daran, dass „die Konservativen am Ende sind“, habe er keine mehr.

Der schwelende Niedergang der Stadt ist augenfällig: zwischen Billig-Shops, Wettbüros und Asia-Imbissbuden sieht man aufgegebene Geschäfte und leere Arkaden. Marks & Spencer, die letzte der großen Supermarkt-Ketten, hat jüngst ebenfalls kapituliert. In dieser Situation können auch Farages Rechtspopulisten mit 15 bis 20 Prozent der Stimmen rechnen.

Labours Kandidatin Alex Baker, eine Technologie-Expertin und Managerin, ist dennoch zuversichtlich. Seit einiger Zeit stoße sie auch in Militärkreisen auf Zuspruch. „Die Leute haben das Gefühl, dass sie zum ersten Mal eine echte Wahl haben.“