Turmfrisur aus den Sechzigern. Foto: oh - oh

Einen aus der Tradition gewachsenen Betrieb gibt es heute nicht mehr an jeder Ecke – auch in Esslingen. Das Unternehmen Gress Friseure ist eine Ausnahme.

EsslingenFehlender Nachwuchs und Fachkräftemangel, Preisdumping und Pfusch durch Billigangebote – das Handwerk hat mit vielen Herausforderungen zu kämpfen. Einen aus der Tradition gewachsenen Betrieb gibt es heute nicht mehr an jeder Ecke, auch in Esslingen. Das Unternehmen Gress Friseure ist eine Ausnahme – seit 60 Jahre sorgen die Schneidemeister dafür, dass die Bewohner der alten Reichsstadt die Haare schön haben.

Es ist die Zeit von Minirock und Twiggy, Mondlandung und Woodstock: Als 1960 der Salon Gress eröffnet wird, befindet sich die Gesellschaft im Umbruch. Der Altbacher Friseurmeister Bernd Gress wagt einen Neuanfang und macht in der Pliensaustraße einen Laden auf. „Als vierjähriger Hosenscheißer erholte ich mich von der Anstrengung des Dreiradfahrens auf dem Schoß der Kunden“, erinnert sich sein Sohn Peter Gress (63), aktueller Geschäftsführer, an die Anfänge. „Einigen davon mache ich bis heute die Haare. Manche sind weit in den Achtzigern, andere schon über neunzig Jahre alt.“

Die Wurzeln der Friseurfamilie reichen eigentlich sogar noch weiter zurück: Karl Gress (Jahrgang 1897) hatte bereits in den 1920er-Jahren in Altbach einen klassischen Herrensalon eröffnet, den er nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft weiter betrieb. Sein bevorzugtes Feld war die kunstvolle Rasur – mit Schaumpinsel und hohl geschliffenem Rasiermesser. „Hatte er genügend Herren rasiert und gesalbt, raubte ihm seine Leidenschaft für das Kartenspiel einen Teil der Tageseinnahmen – sehr zum Leidwesen der Familie“, erinnert sich Peter Gress an die Geschichten über seinen Großvater. Unterlagen aus dieser Zeit sind nicht mehr vorhanden, nur ein altes, körniges Schwarz-Weiß-Foto mit Karl Gress vor seinem Laden war noch aufzutreiben. Sein Sohn Bernd Gress stieg nach der Friseurlehre in den Betrieb ein und wagte den Sprung nach Esslingen. „Altbach war damals sehr ländlich“, sagt Peter Gress. Sein Vater wollte mehr, träumte von Stars und Sternchen beziehungsweise von deren Frisuren. Und damit war in Altbach kein Blumentopf zu gewinnen. Der junge Friseur machte in Esslingen schnell von sich reden. Sein Talent, Ehrgeiz und Erfolgswille machten ihn erst zum Deutschen Meister und 1964 zum Weltmeister der Friseure. Lange Schlangen vor dem Salon kündeten vom Erfolg des 28-Jährigen.

„Unser Vater war nie verbohrt und stets offen für Neues.“ So verpasste Bernd Gress immer am Puls der Zeit den Esslingerinnen neue Schnitte. Wasserwellen und hochtoupierte Frisuren – seit den 1940er-Jahren im Trend – gerieten ins Abseits. Vor allem seit der Brite Vidal Saasson in den 1960ern den Bob erfunden hatte – und damit die passende Frisur zur Emanzipation lieferte. „Die neuen Trends kamen nach ein paar Jahren auch in Esslingen an. Die Kundinnen brachten Zeitungsschnipsel mit Bildern von Frisuren und wollten genau so aussehen“, erinnert sich Peter Gress, der 1973 eine Ausbildung bei seinem Vater begann.

Die 1970er standen im Nachhall des Hippie-Jahrzehnts. „Die Männer hatten Wahnsinnskoteletten, Locken waren out und bei den Frauen war der Katja-Ebstein-Look, ganz glatt mit Mittelscheitel, aktuell.“ 1976 legte Peter Gress seine Gesellenprüfung ab. In den väterlichen Betrieb einsteigen wollte er aber nicht, stattdessen zog es den jungen Esslinger ins Ausland. Die USA, Australien und Skandinavien waren einige seiner Stationen. Sein Geld verdiente er als Bühnenakteur im Friseurbereich. Erst Anfang der 1980er kam Peter Gress zurück. Zusammen mit seiner Schwester Bettina, die mittlerweile ebenfalls beim Vater gelernt hatte, wagte er den Sprung in die Selbstständigkeit mit einem Laden in der Heugasse. „Zusammen mit dem Vater hätte es nicht geklappt“, ist Peter Gress heute noch überzeugt. In die Quere ist sich die Familie Gress aber nicht gekommen: „Unsere Zielgruppe waren ganz klar die jungen Leute.“ Es war die große Zeit des „Vokuhila“ („Vorne kurz, hinten lang“), der Popper und der Punker. Die Dauerwelle war Pflicht – egal ob bei Frauen oder Männern. „Ohne Dauerwelle war man ein Nichts“, grinst Peter Gress heute. Die Frauen wollten aussehen wie Jennifer Beals in „Flashdance“ (1983) – inklusive Stulpen und Schulterpolster. Der Laden lief gut – wer sich „beim Gress“ die Haare schneiden ließ, war schon was in der Stadt. Aus persönlichen Gründen wechselte Bettina Gress 1991 wieder in den väterlichen Laden, der sich inzwischen in Hohenkreuz befand.

Der Vater zog sich langsam zurück. Ab September 2003 machten die Geschwister Gress wieder gemeinsame Sache und eröffneten am Rossmarkt zusammen einen neuen Laden. Dort ist mittlerweile die gesamte Familie eingespannt: Bettina und Peter Gress leiten das Unternehmen, kümmern sich um die Abläufe im Salon und um die Belange der 16 Mitarbeiter. Ellen Harriman – die Tochter von Bettina Gress - bereitet sich auf die nächste Generationenübernahme vor, Peters Ehefrau Susanne Gress leitet das Perücken-Kompetenzzentrum.

„Seit 60 Jahren hat sich viel verändert, aber eines ist gleich geblieben: Wir arbeiten mit und an Menschen, die wir glücklich machen wollen“, sagt Peter Gress. Der Nachwuchsmangel macht aber auch den Esslingern schwer zu schaffen. „Gute Azubis zu finden ist ein Albtraum“, sagt Peter Gress. Waren es Ende der 1990er noch über 80 Bewerbungen pro Zyklus, sind es heute nur noch 15. „Aber unterm Strich waren wir immer gut aufgestellt. Wir haben weniger Azubis, dafür aber engagiertere.“ Und die werden seit Anfang der Nullerjahre mit einem eigenen Konzept unterstützt – so geht es um Ausbildungsstart auf Kosten des Unternehmens erst mal ein halbes Jahr auf eine Schule. Deswegen gibt es unter anderem bei Gress auch keine Lehrzeitverkürzung. „Es braucht Zeit, bis man ein guter Friseur ist“, begründet Peter Gress. „Wenn man nur zwei Jahre lernt, fehlt es schlichtweg an der Übung.“ Fast alle Azubis werden übernommen – so haben fast alle der aktuellen Mitarbeiter bei Gress gelernt. Der hohe Qualitätsanspruch zahlt sich aus – nach 2007 und 2016 ist der Salon Gress 2020 wieder für das Finale des bundesweiten Business-Wettbewerbs TOP Salon qualifiziert.

Momentan arbeitet Peter Gress mit Hochdruck an der weiteren Entwicklung der digitalen Transformationen und ist nur noch die Hälfte seiner Zeit am Kunden tätig („Was soll ich alter Mann auch den Jungen, die mit Bildern von Youtubern, die ich nicht kenne, auf dem Smartphone ankommen, die Haare schneiden?“). Social Media Marketing und e-Learning sind im Salon längst angekommen, es wird mit Onlineberatung übers Netz für die Kunden experimentiert. „Die Digitalisierung ist noch längst nicht durch“, ist sich Peter Gress sicher. Unter dem Label „Digital Hairdresser“ sind seit 2016 sämtliche digitalen Aktivitäten des Salons zusammengefasst. „Das ist nichts für Smartphoneverweigerer, Rückwärtsblicker oder Vergangenheitskuschler“, sagt Gress. „Unsere Strategie ist immer in die Zukunft gerichtet – erst recht nach 60 Jahren.“