Georg Schmiedleitner sucht am Stuttgarter Staatsschauspiel die Aktualität in Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ – Verknappter Text, große Bilder.
StuttgartWie tote Tauben fallen verwaschene Jeans vom Himmel. Auf dem Schlachtfeld der Industrialisierung straucheln die Menschen in Georg Schmiedleitners Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“. Das naturalistische Sozialdrama vom Aufstand der schlesischen Weber im Jahre 1844 hat der Regisseur im Stuttgarter Schauspielhaus nicht nur kräftig auf eineinhalb Stunden gestrafft. Auch die Mundart, derer sich der Dramatiker bedient, um die Tiefenschärfe des von ihm beschriebenen Arbeitermilieus herauszuarbeiten, ist in der Stuttgarter Fassung nicht einmal mehr Beiwerk. Schmiedleitner sucht in dem 1892 veröffentlichten Stück schlichtweg die Aktualität.
Das führt in Volker Hintermeiers bemerkenswertem Bühnenraum zu verblüffenden Ergebnissen. Wie ein Bungalow schwebt die Wohnung des Fabrikanten Dreißiger über der Szenerie. Da verkauft der aalglatte Kapitalist seine ausbeuterischen Thesen vom menschenfreundlichen Unternehmer. Thomas Sarbacher kostet die arrogante Attitüde dieses völlig empathiefreien Mannes aus. Dennoch verrutscht sein Spiel manchmal in die Karikatur. Kostümbildnerin Su Bühler hat einen goldenen Anzug entworfen, der seine Überheblichkeit herauskehrt.
Getragen wird jener Luxus-Loft auch im bildlichen Sinn vom Chor der Weber. Dessen Akteure brechen unter der Last fast zusammen. Was Ausbeutung bedeutet, ist in den verhärmten Gesichtern zu lesen. Sobald sie sich wehren, kippt Dreißigers heile Welt – wie einst die Titanic.
Sehr stark sind die Massenszenen choreografiert. Sebastian Weisner unterlegt das Leiden mit verstörender elektronischer Musik. Klug jongliert Regisseur Schmiedleitner mit Einzel- und Gruppenauftritten. Dabei lässt er sich zu oft von der Faszination großer Bilder hinreißen. Die Figuren und ihre Motivationen, die Hauptmann im Stück trotz der immensen Textfülle scharf zeichnet, verwischen in der Stuttgarter Fassung oft ins Schablonenhafte. Den Reservisten Moritz Jäger, der die Aufständischen anheizt, porträtiert Peer Oscar Musinowski zu sehr als Großmaul mit Schnapsflasche, als dass die revolutionäre Kraft der Figur sichtbar werden könnte. Giovanni Funati als Pfeifer, der die Löhne der Heimarbeiter drücken soll, brüstet sich mit seiner Arroganz. Der Anzugträger, der einst selbst ein Weber war, füllt seine neue Rolle mit übersteigerter Brutalität aus. Dem setzt der junge Gottlieb, den die Weber „roten Bäcker“ nennen, seine aufständische Leidenschaft entgegen. Jannik Mühlenweg lässt ihn beherzt kämpfen, aber auch frustriert von dannen ziehen. Seine Zerrissenheit zeigt der Spieler überzeugend.
Sensibel beschreibt Jelena Kunz als Frau Heinrich, was es bedeutet, in bitterster Not neun Kinder großzuziehen und dazu noch den kranken Mann zu pflegen. Solche dokumentarischen Exkurse, typisch für die Literatur der naturalistischen Epoche, kommen in Schmiedleitners Fassung zu kurz.
Als alter Häusler Ansorge und als Polizeiverwalter – einige Spieler verkörpern mehrere Rollen – meistert Michael Stiller einen fabelhaften Spagat. Sven Prietz gibt unter anderem den sportlichen Pastor Kittelhaus, der von den Aufständischen vereinnahmt wird. Reinhard Mahlberg verkörpert jene älteren Männer, die für verlorene Werte in der Industriegesellschaft stehen. „Was ist denn in die Menschen gefahren? Wüten da wie ein Rudel Wölfe. Machen Revolution, Rebellion; werden renitent, plündern und marodieren“, kommentiert er als alter Hilse. Dabei steht der besonnene Schauspieler einfach da und ist fassungslos. In Momenten wie diesen gewinnt die Inszenierung Tiefe.
Das gilt auch für die Szenen, in denen die Geschichte des Mädchens Emilie erzählt wird. Kommt die doppelte Opferrolle der Frauen bei Hauptmann noch sehr am Rande zur Sprache, rückt sie bei Schmiedleitner in den Fokus. Anne-Marie Lux kauert in der Ecke und schaut angstvoll, als der Fabrikant Dreißiger sie zu sich holt. Die Angst des Mädchens vor dem Missbrauch lässt die Schauspielerin in jeder Geste, in jedem verstohlenen Blick spüren. Schließlich schreit sie die Wut mit ihrer betörenden Stimme heraus. Lux spürt die Aktualität von Hauptmanns Sozialdrama gerade in einer Rolle auf, die sie weitgehend zur Passivität verdammt. Ihre stummen Hilferufe berühren. Mit diesem Kunstgriff rücken die „Weber“ an die Gegenwart heran.
Durch Schmiedleitners radikale Verknappung, die die bisweilen ausschweifende Sprache des Naturalisten eindampft, geht allerdings manches von der gesellschaftlichen Tiefenschärfe verloren. Die Schicksale, auf die der 1862 in Schlesien geborene Dramatiker sein Stück gründet, bleiben nur erschütternde Streiflichter. Das bemerkenswerte visuelle Konzept, mit dem der Regisseur und sein Team Parallelen zwischen Industrialisierung und Krieg zeigen, überzeugen dennoch.
Die nächsten Vorstellungen: 17. und 27. Januar sowie 9. Februar.