Am Mahnmal im Schlosspark wurde eine von Patienten eigens gefertigte grüne Schleife niedergelegt – dem internationalen Symbol für eine Gesellschaft, die offen und tolerant mit psychischen Erkrankungen umgeht und die Teilhabe fördert Foto: Gottfried / Stoppel

Zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ hat es im Zentrum für Psychiatrie in Winnenden eine Feierstunde gegeben. Dabei wurden auch Entscheidungsträger in die Pflicht genommen.

Die Erinnerung lebt. „Noch heute gibt es hier Patienten, deren Angehörige im Dritten Reich umgebracht wurden, weil sie an einer psychischen Erkrankung litten“, sagt Chefarzt Andreas Raether am Rande der Gedenkstunde im Andachtssaal des Zentrums für Psychiatrie in Winnenden. Damit die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht vergessen werden und das Gedenken an die Opfer wachgehalten wird, hatte die Klinikleitung am Freitagvormittag zu einer besonderen Feierstunde mit Impulsvorträgen in den Andachtsaal des Schlosses eingeladen.

Holocaust-Leugnern entgegentreten

„Die größten Feinde der Erinnerung sind die Verdrängung und die Lüge“, sagte Bernd Czerny, kaufmännischer Direktor des Klinikums bei seiner Begrüßung. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Holocaust-Leugner und Extremisten aller Art in unserem Land Beifall oder auch nur Verständnis finden.“ Wer gegen Minderheiten hetze, wer anderen die Menschenwürde abspreche, habe aus der Geschichte nichts gelernt.

Roland Noller, langjähriger Mitarbeiter im ZfB und ehemals Kommunaler Beauftragter im Landkreis für die Belange der Menschen mit Behinderung, berichtete sichtlich berührt davon, wie er als junger Sozialarbeiter zum ersten Mal den Gedenkort Grafeneck besuchte und welch tiefen Eindruck dieses Erlebnis bei ihm hinterlassen hat. In seinem Vortrag ging er unter anderem auch auf die recht späte Entwicklung der Teilhabe von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Nach dem Ringen um gesetzliche Weichenstellungen in Bund und Land und deren schleppender Umsetzung habe es auch positive Phasen der Partizipation gegeben. So wurden Angehörigenseminare geschaffen, Initiativen und Selbsthilfegruppen gegründet, Patientenfürsprecher mit Ombudsfunktion installiert. Nicht alles hatte Bestand: „Aktuell hat der Rems-Murr-Kreis keine aktive Initiative Psychiatrie-Erfahrener mehr, und es gibt auch keinen Selbsthilfeverein der Angehörigen“, sagte er. Die Gesellschaft sei gefordert: „Es gibt immer noch viele Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung und der daraus folgenden Ausgrenzung ihre Wohnung und Arbeit verlieren.“ Auch die Entscheidungsträger nahm er in die Pflicht: „Sie entscheiden nicht nur über Geld, sondern auch über die Zukunft und die Biografien von Menschen.“ Jeder Einzelne „von uns ist verantwortlich dafür, dass Ausgrenzung der Vergangenheit angehört“.

Breites Netz an psychiatrischen Hilfen

Welchen Wandel die Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahrhunderten vollzogen hat, veranschaulichte der Experte für Sozialpsychiatrie Klaus Obert. Angefangen beim Zeitalter der Aufklärung, in der „psychische Erkrankung als rein organisches Defizit“ definiert wurde, über die folgenschweren Theorien der Vererbung psychischer Erkrankungen Anfang des 20. Jahrhunderts bis hin zur Ermordung durch die Nazis, verpackt im Begriff der Euthanasie, spann Obert den weiten Bogen bis in die Gegenwart: „Bei allen Defiziten und Mängeln, die heute in der psychiatrischen Versorgung zu verzeichnen sind, hat sich doch flächendeckend ein breit ausgebautes Netz an sozialpsychiatrischen Hilfen entwickelt.“ Die große Mehrheit der psychisch Kranken werde gemeindenah betreut und unterstützt. Als eine Errungenschaft der Psychiatriereform nannte er die Selbsthilfebewegung, als Experten in eigener Sache und als „solidarische Kontrolle der professionellen psychiatrischen Hilfen“.

Wachsam und selbstkritisch bleiben

Jedoch bestünden weitere Herausforderungen: Verbessert werden müsse die „Verlagerung von stationären Ressourcen nach draußen ins Gemeinwesen“. Wichtig sei außerdem die Gleichberechtigung unter den Berufsgruppen sowie die gleichberechtigte Miteinbeziehung der Selbsthilfe. Intensiv müsse gegen Stigmatisierung und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung gearbeitet werden. Nach wie vor gelte es, sensibel und aufmerksam zu sein „gegen Tendenzen, die psychisch kranke Menschen an den Rand drängen und als abweichend, auffällig und unproduktiv brandmarken“, warnte Obert. Eine solche Entwicklung könne sich zum Nährboden herausbilden, der Menschenwürde und im Extremfall sogar das Lebensrecht infrage stellt. „Seien und bleiben wir alle vor dem Hintergrund unserer deutschen Psychiatriegeschichte unverändert wachsam und selbstkritisch.“