Sam Riley, der John Cranko spielt, mit seiner Frau, der Schauspielerin Alexandra Maria Lara, auf dem Weg zur Premiere im Stuttgarter Opernhaus. Foto: /Uwe Bogen

Auf rotem Teppich laufen die Stars durch ein Spalier jubelnder Fans, und das wohl schönste Opernhaus der Welt bildet die traumhafte Kulisse dazu: Die Filmfestspiele in Cannes können nicht ergreifender sein als die Premiere von „Cranko“. Der Jubel ist bombastisch.

Im Porsche Macan werden die Stargäste der Gala-Premiere des Films „Cranko“ an den roten Teppich chauffiert. Das Opernhaus bildet unter azurblauem Himmel eine filmreife Kulisse. Die Zaungäste jubeln und klatschen, kommen kaum mit dem Selfiemachen nach. Cannes mag am Mittelmeer liegen, Venedig womöglich auch – doch der Eckensee von Stuttgart kommt am Freitagabend zu seinen ganz eigenen Filmfestspielen.

Der 1973 verstorbene Choreograf, der ein Ballettwunder um die Welt schickte, hat Stuttgart zu neuem Glanz und neuem Selbstbewusstsein verholfen. Zuvor war Stuttgart international allenfalls für Autos von Porsche und Mercedes bekannt. In einer Filmnacht, die selbst Teil der Stadtgeschichte werden wird, bringen Limousinen aus Zuffenhausen Ballettlegenden an den Ort einer bis heute nachwirkenden Zeit – einer Zeit, die Stuttgart neben der Auto-Vorherrschaft zur Kultur-Metropole für Jahrzehnte, ja ist bis heute, gemacht hat.

Ballettlegende Egon Madsen wird im Porsche Macan vor das Opernhaus gefahren. /ubo

Eine dieser Legenden ist Birgit Keil, die Cranko seine „Baby-Ballerina“ genannt hat. Nach dem Abspann des zweistündigen Spielfilms, der ihr immer wieder Gänsehaut beschert hat, ist sie erst einmal sprachlos. „Dieser Film“, sagt die große Keil, die der Choreograf vor über einem halben Jahrhundert„Birgitle“ nannte, „hat einen Oscar verdient.“ Dann fügt sie bescheiden hinzu: „Also zumindest für mich.“

Um für den Oscar nominiert werden zu können, wird der Kinostart verlegt

Um überhaupt für den Oscar nominiert werden zu können, hat der Verleih den Kinostart in Deutschland gerade noch rechtzeitig auf Oktober verlegt. Würde ein Film offiziell bereits im September beginnen, wie dies zunächst vorgesehen war, wäre dies für 2025 nicht möglich. Was Birgit Keil tief berührt, ist nicht allein das emotionale Wiederspüren der Vergangenheit: „Es ist einfach toll, mit was für einer Leidenschaft die jungen Tänzerinnen und Tänzer das fortführen, was wir begonnen haben.“

Tränen fließen, minutenlang wird geklatscht, standing ovations, das Opernhaus bebt. War das so 1969 in der Met von New York? Regisseur Joachim Lang blickt von der Bühne auf ein begeistertes Publikum, das in einer Orkanstärke tobt, wie er es mit dieser Wucht beim Dreh mit Statisten verlangt hat.

„Das größte Lob kommt von den Weggefährten, die alle sagen, John Cranko ist wieder da“, ruft Lang ins Mikrofon, „er ist wieder bei uns.“ Mit diesen Worten holt der Autor den „einzigartigen Sam Riley“, der die Hauptrolle mit einer unglaublichen Intensität spielt, auf die Bühne.

Die Bühne ist überfüllt: Regisseur Joachim Lang holt alle Beteiligten auf die Bühne /ubo

Riley bedankt sich bei Stuttgart „für diesen unvergesslichen Moment“, bedankt sich bei dem Ballett, dass er „Teil eurer Welt und eurer Geschichte“ sein durfte – total ergriffen vom Film und der Premierenstimmung versagt ihm fast die Stimme, und er sagt nur noch: „Ich brauch’ jetzt erst mal eine Zigarette.“

Unentwegt raucht Cranko in dem Film, sodass man selbst als Zuschauer fast einen Raucherhusten bekommt. Zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol, zu viele Tabletten – der Popstar des Tanzes hat kein gesundes Leben geführt, von Liebeskummer oft niedergedrückt und dem Selbstmord nah, weil ihn seine große Liebe (sehr einfühlsam gespielt von Gerrit Klein) verließ, er zwar Affären mit vielen Männern hatte, aber sich meist trotzdem einsam fühlte. Dieter Gräfe und Reid Anderson, mit denen Cranko ein Kavaliershäuschen am Schloss Solitude bewohnte, fanden dagegen an seiner Seite ihr Liebesglück. Eine Schwulen-WG am Ausflugsziel der Stadt war in der damaligen Zeit nicht gerade üblich.

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.cranko-feiert-gala-premiere-in-stuttgart-was-swr-intendant-kai-gniffke-zum-streit-mit-dem-erfolgsregisseur-sagt.cdbfb4cd-49b8-4286-b556-cd20a1963ca4.html

Der frühere Ballettintendant Anderson, der Filmberater des Regisseurs, findet rührende Worte für seinen vor fünf Monaten verstorbenen Mann Dieter Gräfe (großartig gespielt von Max Schimmelpfennig), der bei Cranko für die Finanzen zuständig war und der den Film kurz vor seinem Tod noch sehen konnte. Gräfe und Anderson haben 55 Jahre lang zusammengelebt. „Ich konnte bügeln“, sagt Anderson – als Anspielung auf eine Filmszene. Das Bügeln hat er nämlich einem der Lover von Cranko beigebracht. Auf der Bühne erklärt er sich bereit, es auch Joachim Lang beizubringen.

Regisseur Joachim Lang bei der Premiere. /ubo

Marcia Haydée, die sich gerade in Brasilien befindet, schickt eine Videobotschaft, in der sie den Film, den sie bereits gesehen hat, euphorisch lobt. Auch von Elisa Badenes, die sie spielt, ist die 87-Jährige hellauf begeistert: „Dank Elisa habe ich mich wieder in mich verliebt.“ Badenes feiert bei der After-Show-Party im oberen Foyer mit ihren Drillingsschwestern, die aus Spanien angereist sind. „Cranko hat seine Compagnie mit Liebe geführt, nicht mit Hass“, hat die Haydée gesagt. Regisseur Joachim Lang erwähnt dies in seiner Rede. Leider gebe es andere Systeme, bei denen dieses Prinzip nicht gelte, sagt er – eine Anspielung auf seinen Rechtsstreit mit dem SWR, seinem Arbeitgeber, der nicht mehr will, dass er Spielfilme für ihn dreht. Im Oktober geht es deshalb wieder vor Gericht.

Von der SWR-Hierarchie ist niemand gekommen, obwohl der Sender Co-Produzent des Films ist, dafür aber sind aus Hamburg die NDR-Programmdirektorin Katja Marx sowie NDR-Chefredakteur Andreas Chichowicz angereist. Lang, der am Ende alle Beteiligten auf die Bühne holt, bedankt sich ganz besonders bei seiner Dramaturgin Sandra Maria Dujmovic, die beim SWR angeblich aus Sparzwängen genau wie er kaltgestellt werden soll und keine Spielfilme mehr machen darf.

Von Kabarettist Mathias Richling über Publikumsliebling Eric Gauthier, Kunstministerin Petra Olschowski und Bestsellerautor Wolfgang Schorlau bis zur Landtagspräsidentin Muhterem Aras – Stuttgarts Stadtprominenz ist reichlich vertreten (OB Frank Nopper allerdings ist nicht dabei, obwohl der Film eine Liebeserklärung an Stuttgart ist) und völlig begeistert. MfG-Geschäftsführer Carl Bergengrün sagt, so eine großartige Premierenstimmung und so viel Premierenbeifall habe er noch nie erlebt. Einen besonders heftigen Applaus bekommt die 96-jährige Georgette Tsinguirides, die Grande Dame des Stuttgarter Balletts. Gefeiert werden auch die Ballettstars Friedemann Vogel und Jason Railey für ihr Schauspiel-Debüt.

Der frühere Ballettintendant Reid Anderson öffnet die Tür eines Premieren-Shuttles. /ubo

Simon Erasmus, der Chef des Ateliers am Bollwerk, berichtet, dass in seinem Arthouse-Theater der Vorverkauf für „Cranko“ so stark ist wie seit Ewigkeiten bei anderen Filmen nicht mehr. „In Stuttgart wird der Film voll einschlagen“, prophezeit er. In Ballettstädten könnte dies ebenso sein. Doch in vielen Städten in Deutschland, hat er im Austausch mit anderen Kinobesitzern gehört, könne man mit dem Namen des vor 51 Jahren verstorbenen Cranko leider nur wenig anfangen.

Wird sich die große Begeisterung bei der Premiere bundesweit herumsprechen? Für eine Nacht liegen die Filmfestspiele von Cannes am Eckensee. In Stuttgart werden die, die dabei waren, noch lange darüber sprechen. Als deutscher Beitrag für den Oscar nominiert zu werden, ist nicht leicht. Doch viele Premierengäste wünschen sich genau dies. Träumen, so lehrt der Film, zahlt sich aus, wenn man es nur intensiv und leidenschaftlich genug tut. Cranko ist noch immer als Vorbild präsent und kann stolz sein.