Wachsender Schwund: Die Zahl der Kinderärzte nimmt auch in Stuttgart weiter ab. Foto: Adobe Stock/Robert Kneschke

Der Aderlass an Kinderärzten in Stuttgart geht weiter. Wieder schließen drei altgediente Pädiater ihre Praxen. Weitere Abgänge sind angekündigt. Woran liegt es?

Als ihr elfjähriger Sohn kürzlich krank wurde, erlebte die Mutter eine unerfreuliche Überraschung. Durch die Ansage des Anrufbeantworters von Christoph Michels, dessen Praxis an diesem Tag geschlossen war, erfuhr die 50-Jährige, dass der Pädiater „trotz zahlreicher Bemühungen keinen Nachfolger gefunden“ hat und seine Kinderarztpraxis zum Ende dieses Quartals schließt. Zunächst musste das Kind mit 40 Grad Fieber versorgt werden. Das städtische Kinderhospital Olgäle war „total voll“, eine stundenlange Wartezeit wollte sie dem Elfjährigen nicht zumuten. Zum Glück sorgten befreundete Ärzte für Abhilfe.

Ruhiger wurde die Mutter auch danach nicht. Die Perspektive, „ohne Kinderarzt zu sein“, versetzte sie in Panik. Die wurde nicht besser, als sie die ersten Praxen anrief. Überall Absagen. Die günstigste Aussage war da noch, sie möge sich bitte im Sommer wieder melden, derzeit sei man „am Limit“. Mindesten 15 Kinderärzte im Osten, Westen und Süden habe sie kontaktiert, ohne Erfolg.

Krise der Kinderärzte: Nachfolger bleiben aus

„Die Lage ist dramatisch – und wird immer schlimmer“, sagt Christoph Michels über die Entwicklung der pädiatrischen Versorgung in Stuttgart. Seit 25 Jahren hat der 66-Jährige die Kinderarztpraxis im Stuttgarter Osten. Drei Jahre hat er auf vielen Kanälen eine Nachfolge gesucht. „Niemand hat sich interessiert“, stellt Michels frustriert fest. Er ist mit dieser Erfahrung nicht alleine. Ines Kirschner betreibt seit 28 Jahren eine Praxis auf dem Killesberg, sie ist jetzt 68, Ende März hört auch sie auf. Sie hatte immerhin einen potenziellen Nachfolger. Als sich ein baurechtliches Problem ergab, ist auch er abgesprungen. Das tue ihr „wahnsinnig leid“, betont die Kinderärztin. So ergeht es auch Halil Yalcin Tartar, dessen Nachfolgesuche ebenfalls „kein positives Ende“ fand. Er betreibt seit 33 Jahren seine Kinderarztpraxis in Bad Cannstatt. Auch er hat intensiv gesucht. Sein Fazit: „Es gibt offenbar kein Interesse an einer Praxis.“ Ende Juni hört auch Halil Yalcin Tartar mit 66 Jahren auf.

Und so geht es weiter. 34 Prozent der ambulant tätigen Kinderärzte in Stuttgart sind 60 Jahre und älter. Christiane Deringer ist schon 74 und praktiziert immer noch in Weilimdorf. Lange konnte sie sich nicht vorstellen aufzuhören, und in der Pandemie wollte sie ihre „kleinen Patienten nicht im Stich lassen“. Inzwischen hat sie entschieden: Ende März 2026 ist Schluss. „Dann bin ich weg“, sagt die Pädiaterin. Ein Kinderarzt aus einem nördlichen Bezirk wollte schon im vorigen Sommer aufhören, fand aber ebenfalls keine Nachfolge. Er sagt: „Interesse an einer Kinderarztpraxis? Praktisch null!“ Der 65-Jährige macht noch bis Ende Juni 2026 weiter. „Dann werde ich definitiv aussteigen.“

Es geht um die Versorgung von einigen tausend Kindern in Stuttgart

Schon vor diesem Aderlass waren die Abgänge an Pädiatern beträchtlich. Vorigen Herbst wies die Statistik für Stuttgart noch 65 Kinderärzte auf 52 Vollzeitstellen aus. Da hatten die beiden Jahre davor bereits vier niedergelassene Pädiater ihre Tätigkeit beendet. Dazu kamen dann weitere zwei sowie eine Allgemeinärztin, die fast ausschließlich Kinder und Jugendliche behandelt hatte, die ebenfalls aufhörte. Nun wird die obige Zahl um weitere drei Pädiater, im kommenden Jahr nochmals um zwei reduziert.

Viele Familien kommen in eine prekäre Lage. Es geht um die Versorgung von einigen tausend Kindern alleine in diesem Jahr. Pädiater Christoph Michels, der schon etwas reduziert hat, zählt noch etwa 900 kleine Patienten im Quartal, bei Ines Kirschner sind es bis zu 1000, Halil Yalcin Tartar behandelt im Quartal zwischen 1300 und 1500 Kinder und Jugendliche. Übers ganze Jahr gerechnet sind es jeweils noch deutlich mehr.

Diese Kinderärzte hören in diesem Jahr auf:

  • Kinder- und Jugendarztpraxis Dr. med. Christoph Michels, Rotenwaldstraße, Stuttgart-Ost (bis Ende März 2025)
  • Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Ines Maria Chr. Krischner, Helfferichstraße, Stuttgart-Killesberg (bis Ende März 2025)
  • Kinder- und Jugendärztin Christiane Deringer, Stuttgart-Weilimdorf (Ende März 2026)
  • Kinder- und Jugendarzt Dr. Med. Halil Yalcin Tartar, Stuttgart- Bad Cannstatt (bis Ende Juni 2025)
  • Ein nicht namentlich genannter Arzt aus dem Stuttgarter Norden (Ende Juni 2026)

„Das ist eine kritische Situation für viele Kinder in Stuttgart“, sagt Halil Yalcin Tartar. „Viele hängen noch in der Luft – viele Praxen haben einen Aufnahmestopp.“ Ines Kirschner hat den Eindruck, dass „die meisten“ ihrer kleinen Patienten bei anderen Pädiatern untergekommen sind. Vor allem „kritische Patienten“, also etwa chronisch kranke Kinder, seien „mit den Akten“ von Kolleginnen oder Kollegen aufgenommen worden. Auch Christoph Michels weiß, dass wenigstens „eine Reihe von Eltern“ bei Kollegen untergekommen seien. Am allerwichtigsten sei, dass chronisch kranke Kinder „adäquat versorgt werden“, sagt Michels.

Im Kinderhospital Olgäle kommt es schon jetzt zu langen Wartezeiten

„Die Lage ist schlimm“, betont auch Kristina Heyt, Sprecherin der Stuttgarter Kinderärzte. Jeden Tag bekomme sie wie andere Kinderarztpraxen „unzählige Anrufe“ von Eltern mit der Bitte um Aufnahme. Dabei seien viele Pädiater in der Stadt „am Ende ihrer Kapazität“. Damit lassen es Heyt und ihre Kolleginnen und Kollegen aber nicht bewenden. Man habe eine Umfrage gemacht bei den Praxen, wer noch Patienten aufnehme könne, und vereinbart, dass die Pädiater in dieser Lage „mehr annehmen“ als sonst.

Kristina Heyt, die mit einer Kollegin in der Gemeinschaftspraxis im Quartal etwa 2000 kleine Patienten versorgt, appelliert an das Verständnis der Familien, weil die Wartezeiten nun länger werden. „Wenn wir zehn Patienten mehr versorgen am Tag, müssen die anderen mehr Geduld haben“, sagt Heyt.

Eine wichtige Adresse für Familien mit kranken Kindern ist das städtische Kinderhospital Olgäle. Auch dort wachsen die Wartezeiten. „Die angespannte Situation bei den niedergelassenen Kinderärzten schlägt direkt auf die Kindernotaufnahme im Olgahospital durch“, sagt Thekla von Kalle, Ärztliche Leiterin des Zentrums für Kinder-, Jugend- und Frauenmedizin. Die Zahl der Patienten sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, 2024 auf nunmehr 35 000. Dabei komme es „immer häufiger zu Fehlinanspruchnahmen der Notaufnahme“, erklärt Thekla von Kalle. „Es kommen Patienten, die eigentlich bei den niedergelassenen Kinderärzten besser aufgehoben wären.“ Schließlich sei die Notaufnahme „für echte, lebensbedrohliche Notfälle gedacht“.

Für die Zunahme von Fehlinanspruchnahmen gibt es einen Indikator: „Die Zahl der stationären Aufnahmen nach dem Besuch der Notaufnahme ist gesunken“, sagt die Medizinerin. „Das ist ein Zeichen, dass die Schwere der Erkrankungen tendenziell abgenommen hat.“ Dabei mache man den Familien keinen Vorwurf, betont Thekla von Kalle: „Häufig finden sie keinen niedergelassenen Kinderarzt.“ Die hohe Fallzahl führe aber zu deutlich steigenden Wartezeiten. Da man in der Notaufnahme nach der Schwere der Fälle behandle, „muss häufig mehrere Stunden warten, wer kein echter Notfall ist“.

Mutter wurde fündig – aber nicht in Stuttgart

Die Mutter des Elfjährigen hat inzwischen einen neuen Kinderarzt. Aber nicht in Stuttgart. Eine Freundin, die den Pädiater in Leinfelden kennt, gab ihr den Tipp. Sonst hätte die 50-Jährige womöglich bis heute keine Versorgung für ihren Sohn. Die Leiterin eines Familienzentrums sagt, sie als gut vernetzte „Mittelschichtsmama“ habe immerhin eine Chance, einen neuen Arzt zu finden. Aber auch eine befreundete Familie mit zwei Kindern habe noch keinen neuen Pädiater. „Und wie machen das die, die das schon sprachlich nicht schaffen?“