Lewis Hamilton ist nicht glücklich mit der Leistung seines Autos. Foto: dpa/Luca Bruno

Das Formel-1-Werksteam des Stuttgarter Automobilherstellers zieht Konsequenzen aus dem sportlichen Abschwung und stellt sich personell neu auf.

Nach vier Wochen Pause fühlt sich der Große Preis von Aserbaidschan am Wochenende wie ein Neustart der Formel-1-Saison an. Ist er auch, dieser vierte WM-Lauf. Zum ersten Mal wird das Sprintrennen an diesem Samstag (15.30 Uhr) für sich allein gewertet, mit einem eigenen Qualifying. Das Hauptrennen steigt dann am Sonntag (13 Uhr).

Nach den drei Demütigungen durch Titelverteidiger Red Bull gehen die Herausforderer mit verändertem Personal in die Aufholjagd. Ferrari verliert Sportdirektor Laurent Mekies an Toro Rosso, beim ehemaligen Abo-Champion Mercedes tauschen James Allison und Mike Elliott die Rollen. Allison wird wieder aktiver Technikchef, Elliot soll sich um die Entwicklung kümmern.

Technische Probleme

Gutes Stichwort: Wie entwickelt sich ein siegverwöhnter Rennstall weiter, wenn er schon im zweiten Jahr den eigenen Erwartungen weit hinterherfährt? Es ist ein ziemlicher U-Turn, der in den Mercedes-Rennfabriken in den mittelenglischen Städten Brackley und Brixworth verlangt wird. Aber offenbar scheint das technische Problem, das auch den neuen Silberpfeil plagt, zumindest nicht zu stark auf die Psyche zu drücken. Ein Insider sagt: „Wir haben entdeckt, dass die Rolle als Jäger sogar spannender sein kann. Wir erfinden uns gerade neu.“

Aber bis zum Europastart Ende Mai ein komplett neues Auto auf die Räder zu stellen, das nicht mehr hüpft, aerodynamisch völlig anders aussehen soll und sich auf dem gleichen Level wie der siegreiche Red-Bull-Rennwagen bewegt – das ist eine Herkulesaufgabe. Zumal der normale Formel-1-Betrieb weiterläuft und die Budget-Obergrenze den Spielraum limitiert.

Weshalb das Stuttgarter Werksteam nicht bloß auf eine Neukonstruktion setzt. Mercedes will nicht weniger, als sich gleich neu zu erfinden. Schon in Richtung 2026, wenn mehr Elektroantrieb kommt und mit Audi ein großer neuer Herausforderer. Teamchef Toto Wolff, der sich sehr stark mit der eigenen Psyche und der seiner Mannschaft auseinandersetzt, hat die brutale Ehrlichkeit angesichts des Leistungsdefizits als erstes Mittel auf dem Weg zur Besserung eingesetzt. Charakterbildend, weil es nicht von Vorwürfen geprägt ist. Wolff sagt über die Abstimmung der wunden Teamseele: „Wir dürfen nicht zu sehr zwischen Überschwang und Depression schwanken. Wir müssen auch bei Rückschlägen an unseren Weg glauben. Das Ruder wieder herumzureißen ist für mich eine große Herausforderung.“

Frische Ideen gesucht

Deshalb kommt es nicht nur in Spitzenpositionen zu Umbesetzungen. Ingenieure einer neuen Generation mit frischen Ideen, manchmal auch frechen, sind herzlich willkommen. Längst betreibt Mercedes eigene Nachwuchsprogramme im Zusammenspiel mit Universitäten, die Personalabteilung kann über Bewerber nicht klagen. „Wir sind keine statische Organisation. Deshalb sammeln wir neue Energie, holen zusätzliche Expertise, vertrauen aber auch auf unsere bewährten Leute“, sagt Rennstallsprecher Bradley Lord. Das, was gerade an neuen Strukturen erarbeitet wird, ist einem ehrgeizigen Plan untergeordnet: „Wir denken nicht nur an diese Saison. Wir bauen am Siegerteam der Zukunft.“

Daher die radikale Veränderung der Führungsstruktur, nachdem schon bei den Testfahrten klar war, dass das neue Auto für 2023 wieder nicht der große Wurf war. Zu lange hat man sich selbst blenden lassen, das ist jetzt vorbei – auch die Plätze zwei und drei für Lewis Hamilton und George Russell beim Chaos-Rennen in Melbourne werden daher nicht überbewertet. Ob in diesem Rennjahr noch die Wende geschafft wird, erscheint fraglich. Die B-Version, die schon im Windkanal steht, sei vielversprechend, heißt es. Aber jeder weiß, dass die Leistungskurve steiler sein muss als die von Red Bull.

Der große Sprung

Wie riesig ein Sprung in einer laufenden Saison sein kann, bleibt selbst bei einem Konzernableger offen. Deshalb wird viel weiter gedacht, gerade bei der Effizienz der Strukturen. James Allison, ein eher stiller, aber schneller Denker, bestätigt das: „Mit den Gedanken bin ich schon im Jahr 2026.“ Die neue Rollenverteilung soll dafür sorgen, das ganze Potenzial des ehemaligen Marktführers abzurufen: „Vielleicht bin ich besser für den kurzfristigen Kampf geeignet. Und Mike ist der bessere Schachspieler. Zusammen macht uns das zu einer schlagkräftigeren Maschine für Mercedes.“

Der 55-Jährige, der zuvor für Ferrari gearbeitet hat und nach dem Tod seiner Frau 2016 nach England zurückgekehrt ist, weiß aber auch, dass aktuell die volle Power vonnöten ist, um einen Gegner wie Red Bull niederzuringen. Im Fahrerlager hält sich weiterhin das Gerücht, dass Max Verstappens Team bisher nicht alles gezeigt hat, was im eigenen Auto steckt – um die Saison nicht gleich am Anfang zu langweilig zu machen. „Unser W14 wird für mich immer ein schwaches Auto sein“, sagt Allison, „jedenfalls so lange, bis es das schnellste ist.“