Sem Schade (links) holt bei „Feinkost mo“ Waren ab. Betreiber Orhan Bayazit macht bei der Aktion gerne mit. Foto: Peter Dietrich - Peter Dietrich

Ein Drittel aller Lebensmittel weltweit wandert in die Tonne – Sem Schade will mit dem Foodsharing-Projekt seit Sommer 2019 in Wendlingen gegensteuern.

WendlingenSem Schade hat Foodsharing im Sommer 2019 nach Wendlingen gebracht. „Ein Drittel aller Lebensmittel weltweit werden für die Tonne produziert“, sagt er. Dieser Gedanke ist für den 23-Jährigen unerträglich. Noch ist die Initiative vor Ort ein kleines Pflänzchen, doch es wächst.

Orhan und Denis Bayazit sortieren am Samstagnachmittag in ihrem Geschäft „Feinkost mo“ im Wendlinger Langhaus die nicht verkauften Waren. Orhan Bayazit stellt eine Kiste zusammen und sagt: „Ich kann das nicht mehr verkaufen, auch nicht alles selber essen, und es wäre so schade, wenn ich es wegschmeißen müsste.“ Das muss er nicht, denn er ist Partner von Foodsharing. Als Sem Schade ihn gefragt hat, ob er mitmachen will, sagte Orhan Bayazit: „Sofort!“ Er ist von Anfang an dabei. Kurz darauf kam als zweiter Partner der Naturkostladen „Brennessel“ hinzu.

Frauen in der Überzahl

Einmal pro Woche werden Lebensmittel abgeholt, aber auch mal dazwischen, wenn ein Händler neue Ware meldet. Sem Schade packt Brot, Feldsalat, Auberginen, Karotten, Sellerie, wilden Brokkoli, Petersilie, Schnittlauch und vieles mehr in Taschen und fährt mit dem Fahrrad zum „Fairteiler“. Das ist ein Schrank hinter dem alten Notariat. „Wir träumen von einem Kühlschrank, aber da brauchen wir die Unterstützung der Stadt“, sagt Sem Schade. Ist der Schrank geputzt und mit den Lebensmitteln beladen, macht er ein Foto von der Lieferung und schickt es an die WhatsApp-Gruppe.

„Foodsaver“, also registrierte Lebensmittelretter, sind bei Foodsharing gemeldet, haben einen Ausweis und dürfen bei Geschäften Ware abholen. Wer nicht „Foodsaver“ ist, darf sich im „Fairteiler“ bedienen. Bei den Lebensmittelrettern sind Frauen deutlich in der Überzahl. Eine Stufe höher ist der „Betriebsverantwortliche“. Sem Schade ist auf der höchsten Stufe, er ist „Botschafter für Wendlingen“. Foodsharing, eine rein ehrenamtliche Umweltschutz-Initiative, sei sehr auf den guten Ruf bedacht, deshalb gebe es klare Regeln. „Ich darf zum Beispiel keine Lebensmittel verkaufen.“ Eine Freundin hatte ihm von der Organisation erzählt. Er beschäftigt sich auch intensiv mit dem Klimawandel: „Falls ich 80 oder 90 werde, lebe ich bis etwa in die 2080er-Jahre. Bis dahin wird sich unser Leben radikal verschlimmert haben, wenn wir das 1,5-Grad-Klimaziel verfehlen.“

Lebensmittel für die Tonne seien eine Verschwendung von Wasser und Land. „Dabei ist das eine einfach zu behebende Verschwendung“, sagt Schade. Containern, also hinter dem Supermarkt die weggeworfenen Waren holen, sei verboten. „Das hängt damit zusammen, dass der Handel noch immer die Haftung für die Lebensmittel hat.“ Bei einer Übergabe an Foodsharing erlischt die Haftung, das regelt ein Kooperationsvertrag. Wer sich im „Fairteiler“ bedient, tut dies auf eigene Verantwortung. Mit dem Retten von Lebensmitteln hat Sem Schade in Esslingen begonnen. Dort werde jede Woche eine Tonne gerettet, europaweit waren es nach Angabe von Foodsharing bisher knapp 30 000 Tonnen Essen. Führend sind die großen Städte. Europaweit machen mehr als 200 000 Aktive mit. „Jeder ab 18 Jahren kann sich anmelden“, sagt Sem Schade. Er sah, dass es die Initiative auch in Nürtingen, auf den Fildern und in Kirchheim gibt, und begann in Wendlingen einen Unterstützerkreis aufzubauen. Inzwischen hat er mehr als eine Tonne Lebensmittel gerettet.

Keine Konkurrenz zur Tafel

Wer zu einer Abholung geht, trägt sich im Internet ein. Somit kommen nicht unnötig viele „Foodsaver“, aber es ist auch garantiert, dass jemand kommt: Das verspricht die Initiative den Partnergeschäften. „Ich kenne Leute, die finanziell auf die kostenlosen geretteten Lebensmittel angewiesen sind und fast gar nicht mehr separat einkaufen“, sagt Sem Schade. Er selbst ist berufstätig. „Ich könnte mir Essen kaufen. Aber die erste Priorität ist, dass die Sachen gegessen werden.“ Foodsharing sei keine Konkurrenz zum Tafelladen. „Das ergänzt sich.“ Frage Foodsharing bei einem Geschäft an, das bereits die Tafeln beliefere, hätten diese Vorrang. „Es gibt aber auch Läden, die parallel beide beliefern.“ Zu den Partnern gehören auch Restaurants – so gibt es in Esslingen eine Abholung um 22 Uhr beim Inder. „Es macht Spaß, kreativ zu sein, und offen zu sein für neue Rezepte.“

„In Frankreich und Tschechien dürfen Supermärkte Lebensmittel nicht wegwerfen, sondern müssen sie abgeben“, sagt Schade. Das wünscht er sich auch für Deutschland. Er freut sich über Zuwachs und schaut aufs Smartphone: „Soeben ist jemand der Gruppe beigetreten. Nun sind wir 58.“

Kontakt: wendlingen@foodsharing.network; https://foodsharing.de