Auf der Flucht und noch lange nicht am Ziel: Ein kleiner syrischer Junge an der Uferpromenade in Kos. Foto: Molitor

Nur ein paar Meter trennen Urlaub und Flucht, Vergnügen und Verzweiflung. Die Flüchtlingslawine auf der griechischen Insel Kos stellt die Frage: Wer will nicht und wer kann nicht helfen?

Kos - Kleine Zelte. Ein paar Planen. Sitzflächen aus Pappe. Wenn der Wind über die Strandpromenade bläst, bäumen sich die provisorischen Flüchtlingsbehausungen wie unter Schmerzen auf, zerren an den Leinen. Ein paar Hundert Menschen mögen es sein, die es bis nach Kos geschafft haben, in ein EU-Land. Rund 2000 weitere warten in anderen Schlupfwinkeln. Unauffällig.

Nachts kommen sie in Schlauchbooten und auf Fischerkähnen auf der griechischen Ferieninsel an. Mal sind es 100, mal viel mehr, je nach dem, wie rau die See ist, die Kos rund fünf Kilometer vom türkischen Festland trennt. Die Ausflugsschiffe nach Bodrum brauchen nur 20 Minuten, um die Touristen hinüberzubringen. Die Flüchtlinge in ihren Schlepper-Schalen eine gute Stunde. Wenn sie nicht kentern und die Menschen stundenlang im Wasser treiben.

Wie Ahmed. Der Syrer ist vor vier Tagen auf Kos angekommen. Von der Erleichterung, es nach monatelanger Irrfahrt nach Griechenland geschafft zu haben – ohne Frau und zwei Kinder, die noch in Damaskus sind – ist nicht viel geblieben. Der 26-Jährige campiert mit anderen zwischen Sträuchern im Schatten der Johanniterfestung Neratzia. Der Seewind vertreibt den unvermeidlichen Gestank, der entsteht, wenn mobile Toiletten und Duschen fehlen.

Alleingelassen

Hier warten sie zuhauf. Im weiten Rund um die Platane des Hippokrates, die der berühmte Arzt vor 2400 Jahren gepflanzt und unter der er seine Schüler in der Kunst der Heilkunde unterrichtet haben soll. Flüchtlinge zumeist aus Bürgerkriegs-Syrien, aber auch viele Pakistani, Iraker, Afghanen, Schwarzafrikaner. Die meisten sind Selbstversorger. Alleingelassen. „Wir können ihnen nicht helfen, auch wenn wir wollten“, sagt Giorgos Kiritsis, der Bürgermeister der 28 000 Einwohner großen Insel. Der grau melierte Herr schwärmt lieber von der Schönheit seines Eilands, von treuen Gästen, die es seit vielen Jahren immer wieder nach Kos zieht. Von Kirchen, der Synagoge und der Moschee, die eine Botschaft hätten: „Für ein friedliches Zusammenleben.“

Die Gastfreundschaft der Insulaner wird seit April auf eine harte Probe gestellt. Vor dem kleinen Gittertor am Seiteneingang zum imposanten weißen Verwaltungsgebäude in Kos-Stadt sammelt sich seitdem Tag für Tag eine Traube von Verzweifelten, die nur eines wollen: eine Registrierung, jenes begehrte Stück Papier, um ans Festland zu dürfen. Am Donnerstag hat die von der Regierung in Athen gecharterte Fähre „Eleftherios Venizelos“ zum zweiten Mal in wenigen Tagen im Hafen angelegt. Sie soll erneut etwa 2500 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nach Piräus bringen. Dorthin, wo das eigentliche Aufnahmeverfahren beginnen kann, das Leuten wie Ahmed das Tor unerlaubt nach Deutschland oder Schweden öffnet. Seit Tagen pendelt die Fähre zwischen Leros, Lesbos, Kalymnos, Agathonisi und Kos. Mittlerweile sollen 15 000 Menschen ans Festland gebracht worden sein. Aber es kommen jede Nacht neue. Junge Männer zumeist, aber auch Schwangere und ganze Familien. Wie soll das weitergehen?

Zu wenig Beamte

„Wir schaffen am Tag mit den sieben Beamten zwischen 100 und 150 Registrierungen“, sagt der Bürgermeister. Zu wenig Beamte, zu wenig Stempel. Noch immer befinden sich bis zu 3000 Flüchtlinge auf Kos. Sie alle wollen die Insel möglichst schnell verlassen, auch wenn beileibe nicht alle in den engen Zelte hausen müssen. Vor allem Syrer haben sich in kleine Hotels einquartiert, können ihr Essen selbst kaufen. Kaufleute, Ingenieure, Lehrer. Menschen, die den Schleppern zwischen 900 und 1500 Euro für die kurze Überfahrt bezahlen.

„Von uns bekommen sie keine Hilfe“, sagt Kiritsis. Dafür habe Kos kein Geld, und die Regierung in Athen lasse die Insel allein. In der Tat: Für ihr Fünf-Mann-Ressort sei im Staatshaushalt kein Geld vorgesehen, sagt die stellvertretende Ministerin für Flüchtlingsfragen, Tasia Christodoulopoulou. Was ist mit den für die nächsten sieben Jahre von der EU bereits zugesagten 474 Millionen Euro? „Damit haben wir’s nicht eilig“, antwortet die 67-Jährige Syriza-Juristin. Die gebe es ja nur für die Bereitstellung von Asylbewerber-Unterkünften, aber wer beantrage schon in so einem armen Staat wie Griechenland Asyl? „Wirklich keiner.“ Alle wollten doch nur das eine: möglichst schnell weiter in den reichen Norden. „Drei Mal am Tag lassen wir jetzt die Strandpromenade säubern“, sagt Kiritsis, aber mehr Toiletten oder Duschen? „Das werden wir nicht schaffen.“ Nicht können. Oder doch nicht wollen?

Wollen kein Aufnahmelager

Die Präsidentin der Hotelvereinigung sagt es rundheraus. „Wir wollen kein Aufnahmelager“, erklärt Vina Svinou. Kos lebe zu weit über 90 Prozent vom Fremdenverkehr. „Wir haben ein sehr starkes touristisches Produkt“, sagt sie selbstbewusst. Die Zahlen geben ihr Recht. Dieses Jahr wird trotz der andauernden politischen Instabilität und den zwischenzeitlichen Grexit-Ängsten ein sattes Übernachtungsplus bringen, allein 215 000 Gäste kommen aus Deutschland. „Kos läuft für uns prima, wir legen 2015 rund 20 Prozent zu“, sagt Alltours-Sprecher Stefan Suska.

Wer auf einen Ausflug nach Kos-Stadt verzichtet, sieht von den Flüchtlingen nichts. Auch wenn der Wirt der Bar H2O an der Vasiliki-Georgiou-Strandpromenade – dort, wo vor gut einer Woche noch mehr als 2000 Menschen im nahen Stadion unter glühender Sonne ohne Wasser und Verpflegung kaserniert waren – jammert, dass auf seiner Terrasse die Kunden ausbleiben: Die allermeisten Touristen schlendern entweder neugierig oder unbeteiligt an den windschiefen Zelten auf der einen und den bunten Speisekarten auf der anderen Straßenseite vorbei. „Wenn ich mir von schlechtem Gewissen den Urlaub vermiesen lasse, wird es denen da auch nicht besser gehen“, blafft der sonnengerötete Hans, ein Mittvierziger aus Rastatt. Seinen vollen Namen will er, wie viele andere, die gefragt werden, nicht nennen. „Lass mal“, sagt seine Frau und zieht ihn weg, „die sind wirklich arm dran.“ Bald geht es mit der Tuifly-Boeing 737 zurück nach Stuttgart. „Es war ein schöner Urlaub“, sagt Hans.

Mohammed, nennen wir ihn so, muss bleiben. Er liegt auf einer schmutzigen Matratze in der früheren Rezeption des Hotels „Captain Elias“. Seit sechs Jahren steht das Haus leer und kommt herunter. Für 200 Menschen ist hier Platz. Mehr als 800 dürften es mittlerweile sein, vor allem Pakistani, kaum Syrer. Sie erzählen ähnliche Geschichten: von Mord und Totschlag, von Unterdrückung und Verfolgung, von Folter und Elend. Auch sie wollen wie John, der sagt, er sei in Kamerun Lehrer gewesen, ihren vollen Namen nicht nennen. Wie alt er ist? „Zwischen 18 und 25,“ sagt John. Warum fragst du? Vor kurzem hat es vor dem „Elias“ gebrannt, nachdem der Wind die Funken eines offenen Feuers versprüht hatte. Vier bis in die Spitze verkohlte Palmen – mehr ist zum Glück nicht passiert. Im leeren verdreckten Swimmingpool kocht ein Mann auf einem kleinen Ofen weiter sein Essen. Rund um das Haus verteilen sich große Rote-Kreuz-Zelte und improvisierte Verschläge. Nur ein paar Dixi-Klos auch hier, einige wenige Wasserhähne. Dafür viel Müll. „Eine Frage der unterschiedlichen Kultur“, sagt Kiritsis.

Eine Schande

Der Bürgermeister der Insel ist verärgert, wenn man ihn auf die desolaten Zustände anspricht. „Natürlich ist ,Captain Elias’ eine Schande“, sagt er. Er habe das Lager nicht gewollt, aber die Regierung in Athen habe die Lage provoziert.

Nächste Woche will er das Haus per Gerichtsbeschluss räumen lassen. Die Stadt hat gegen den Pleite-Hotelier und die Piräus-Bank Klage eingereicht. Und dann? Kiritsis zuckt mit den Schultern. Irgendwann würden die Flüchtlinge Kos schon verlassen. „Europa muss sich über ihre Zukunft Gedanken machen. Nicht wir.“