Kann man Zuwanderung steuern? Natürlich kann man, sagt Migrationsforscher Daniel Thym – und erklärt, wie es funktionieren könnte.
Wie viele Menschen nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen, hat die Bundesregierung nicht in der Hand. Oder? Daniel Thym ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht und forscht zu Migration. Er ist sich sicher, dass sich auch irreguläre Zuwanderung ordnen lässt. Im Interview erklärt er, was dazu nötig ist – und warnt vor leeren Versprechen.
Herr Thym, in den vergangenen Monaten wurde viel darüber gesprochen, wie man Migration steuern kann. Kann man das denn überhaupt?
Ganz klar: Ja! Allerdings gibt es keine einfache Lösung. Und es geht nur, wenn man nationale, europäische und internationale Ansätze zusammen denkt. Dann kann man die Zuwanderungszahlen beeinflussen – auch wenn man sich das nicht wie bei einem Wasserhahn vorstellen darf, den man beliebig auf- und abdrehen kann. Unser Bild von Migrationspolitik ist oft sehr stereotyp: Grenzen auf oder Grenzen dicht. Beides ist unrealistisch. Inzwischen hat sich aber bei fast allen Parteien ein sinnvolleres Konzept durchgesetzt: Humanität und Ordnung. Für eine gelungene Migrationspolitik braucht es beide Elemente. In den vergangenen Jahren haben wir stark auf Humanität gesetzt. Jetzt brauchen wir eher Instrumente im Sinne der Ordnung.
CDU und CSU wollen Asylbewerber pauschal an den deutschen Grenzen zurückweisen lassen, die Ampelkoalition lehnt das ab, weil sie es europarechtlich für zu unsicher hält. Was halten Sie davon?
Rein juristisch betrachtet ist es eine Frage der Risikoabwägung. Friedrich Merz meint, dass das europäische Asylsystem extrem schlecht funktioniert. Deshalb will er das Risiko in Kauf nehmen, dass die Gerichte sein Argument zurückweisen, dass die Voraussetzungen vorlägen, um eine Ausnahmeklausel in den EU-Verträgen zu aktivieren. Die Regierung will dieses Risiko nicht eingehen. Zum einen, weil sie davon überzeugt ist, dass die anstehende EU-Asylreform sehr viel verbessern wird; zum anderen, weil sie nicht glaubt, dass nationale Zurückweisungen das Problem nachhaltig lösen.
Was halten Sie für richtig?
Beide Positionen sind legitim. Es ist letztlich eine Debatte darüber, ob man, wie Friedrich Merz, generell einen Neustart in der deutschen und europäischen Asylpolitik will oder, wie die aktuelle Regierung, auf schrittweise Reformen setzt.
Europarechtlich wird sich ohnehin bald einiges ändern, wenn 2026 die Reform des Europäischen Asylsystems in Kraft tritt. Vorgesehen ist unter anderem, Asylzentren an den EU-Außengrenzen einzurichten und Schutzsuchende gerechter in der EU zu verteilen. Für wie vielversprechend halten Sie diese Pläne?
Die Reform enthält viele gute Ansätze, aber sie ist zu halbherzig. Die Asylzentren sind zum Beispiel nur für Menschen vorgesehen, die sehr geringe Aussichten auf Asyl haben. Und die Verteilung der Schutzsuchende unter den EU-Ländern bleibt freiwillig. Außerdem sind die Länder an den Außengrenzen verpflichtet, maximal 30 000 Menschen gleichzeitig in den Zentren für die Grenzverfahren unterzubringen. Genau so viele Flüchtlinge sollen solidarisch auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden. Das reicht alles nicht. Die EU-Reform allein wird wegen dieser Halbherzigkeit die Herausforderung nicht meistern. Wir müssen die internationale und die nationale Ebene mitdenken.
Dann lassen Sie uns auf die nationale Ebene schauen. Inzwischen gibt es Kontrollen an allen deutschen Grenzen. Wieviel bringt das, um irreguläre Migration aufzuhalten?
Grenzkontrollen sind nicht der Königsweg, für den viele sie halten. Trotzdem kann man irreguläre Migration damit beeinflussen. Zum einen schrecken sie Schleuser ab. Zum anderen haben sie eine Signalwirkung. Wer an der deutschen Grenze um Asyl bittet, darf eigentlich nicht abgewiesen werden. Doch viele Menschen wissen das nicht – und werden deshalb abgeschreckt. Wirklich effektiv sind Grenzkontrollen aber erst, wenn Deutschland nicht allein handelt. Im vergangenen Jahr sind Länder wie Serbien massiv gegen irreguläre Migration vorgegangen. Deshalb kommen viel weniger Menschen an der deutschen Grenze an. Ich verstehe, dass die Politik vor allem über innerstaatliche Maßnahmen redet. Ebenso wichtig ist jedoch das europäische und internationale Vorgehen im Hintergrund.
Welches Instrument halten Sie langfristig für sinnvoll?
Die Ampelkoalition setzt ja sehr auf Migrationsabkommen. Das halte ich für einen guten Ansatz. Nur hapert es eben an der Umsetzung. Aber die Idee dahinter ist sinnvoll: Wir versuchen, Migration gemeinsam mit den Herkunftsländern zu steuern. Das heißt konkret, dass diese Staaten ihre abgelehnten Asylbewerber wieder zurücknehmen. Dafür ermöglichen wir es dann einer bestimmten Anzahl von Menschen aus diesen Ländern, legal nach Deutschland zu kommen – zum Beispiel als Arbeitskräfte. Allerdings gilt auch bei Migrationsabkommen: Sie allein werden das Problem nicht lösen. Es braucht immer viele Maßnahmen.
Die Union setzt auf die Idee, mit Drittstaaten zu kooperieren – zum Beispiel, indem andere Staaten dafür bezahlt werden, Schutzberechtigte aufzunehmen, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Was halten Sie davon?
Ich sehe das ähnlich wie die Migrationsabkommen. Drittstaatsmodelle gehören in den Werkzeugkasten einer Asylpolitik. Sinnvoll sind sie vor allem, wenn die Herkunftsländer nicht kooperieren oder eine Abschiebung dorthin aus rechtlichen Gründen scheitert. Der Vorteil dieser Idee besteht darin, dass schutzbedürftige Menschen weiterhin Schutz bekommen, nur nicht in Deutschland, sondern in einem Drittstaat. Das umzusetzen ist anspruchsvoll – diplomatisch, praktisch und auch rechtlich. So ist es in der Asylpolitik eigentlich immer: Es gibt keine einfache Lösung und die Politik muss aufpassen, dass sie solche nicht verspricht. Sonst sind die Menschen am Ende nur enttäuscht.
Es ist auf Dauer aber doch auch keine Lösung, immer nur zu sagen, dass alles kompliziert ist. Das gewinnt die Enttäuschten nicht zurück. Wenn es in Ihrer Hand läge: Wie würden Sie denn Migration regulieren?
Wäre ich Politiker, würde ich sichtbare Maßnahmen ergreifen: zum Beispiel ein Drittstaatsmodell oder ein Migrationsabkommen. Das beruhigt die Menschen, die das Gefühl haben, der Staat habe die Kontrolle verloren. Zugleich würde ich aber dafür sorgen, dass im Windschatten dieses Kontrollsignals eine ganze Palette nationaler, europäischer und internationaler Maßnahmen ergriffen werden, die dann im Zusammenspiel wirken. Wenn das gelingt, ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass wir uns als Einwanderungsland genauso verhalten wie Kanada oder Australien. Indem wir stärker auswählen, wer kommen soll und bleiben darf.
Was heißt das konkret?
Die irreguläre Migration über das Asylsystem verunsichert die Menschen in Deutschland und birgt riesige Herausforderungen bei der Integration. Diese sind geringer, wenn mehr Menschen legal mit dem Flugzeug als Fachkräfte oder als Flüchtlinge einreisen. Dann kann man davor einen Deutschkurs und eine Sicherheitsprüfung machen. Beim Asylrecht würde das bedeuten, jedes Jahr eine bestimmte Anzahl schutzbedürftiger Menschen aus Krisenregionen in Deutschland aufzunehmen, die zum Beispiel das UNHCR für uns aussuchen würde. All das setzt natürlich voraus, dass weniger Menschen irregulär kommen.
Sie plädieren dafür, dass Deutschland als Einwanderungsland mehr Härte bei der irregulären Migration zeigt?
Das stimmt. Einwanderungsländer haben ja keine offenen Grenzen. Das müssen wir lernen. Dazu gehört auch, sich einzugestehen, dass wir Migration schon seit Jahrzehnten hart steuern. Wir sprechen nur kaum darüber. Haben Sie sich mal gefragt, warum Menschen bereit sind, Tausende von Euro an Schlepper zu zahlen und sich in lebensgefährliche Boote zu setzen, um in die EU zu kommen – obwohl es viel sicherer und günstiger wäre, einfach einen Flug zu buchen?
Man würde sie ja gar nicht an Bord der Maschinen lassen.
Richtig. Weil die Bundesregierung die Fluggesellschaften Strafgebühren dafür zahlen lässt, wenn sie hier Menschen einfliegen, die keine Visa haben. Das ist sehr hart. Visavorschriften sind ein extrem effizientes Instrument in der Migrationspolitik, das Deutschland seit Jahrzehnten einsetzt. Das wird oft vergessen. Wir sind nicht die Guten, für die wir uns lange gehalten haben. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir anders über Migrationspolitik sprechen.
Das Interview führte Rebekka Wiese.
Zur Person
Professor
Daniel Thym, Jahrgang 1973, ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und leitet dort das Forschungszentrum Asyl- und Ausländerrecht. Er hat in Regensburg, Paris und in Berlin studiert, seinen Masterabschluss machte er in London. Seit 2010 ist er als Professor in Konstanz.
Experte
Besonders in Fragen zum Asylrecht sowie zum europäischen Verfassungsrecht gilt Thym als renommierter Experte. Von 2016 bis 2022 war er Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration, von 2019 bis 2022 als stellvertretender Vorsitzender.