Florian Sitzmann moderiert am Samstag mit der Inkluencerin Hülya Marquardt den Abend im Reithaus.Foto: Dennis Marquardt Foto:  

Vor 30 Jahren verlor Florian Sitzmann als 15-Jähriger bei einem Motorradunfall beide Beine. Im Interview spricht der meisterhafte Handfahrradfahrer, Autor und Coach darüber, wie er seither sein Leben als „halber Mann“ meistert.

Dass er sich selbst als „halber Mann“ bezeichnet und sogar über seinen Namen scherzt („kein Künstlername“), beweist, dass Florian Sitzmann sein Credo lebt: „Man muss auch über sich selbst lachen können“. Dabei hätte er allen Grund zum Verzweifeln gehabt, als er als Jugendlicher nach einem Motorradunfall beide Beine amputiert bekam. Inzwischen ist er durch die offensive Art, mit seinem Handicap umzugehen, und seine erstaunlichen sportlichen Leistungen Mutmacher und Vorbild für Menschen jeden Alters. Am Samstag will er das auch in Ludwigsburg sein – bei der Langen Nacht der Inklusion. Ein Gespräch über Höhen, Tiefen, mentale Kraft und Toleranz.

Herr Sitzmann, der Aktivist Raul Krauthausen sagt sinngemäß: Wenn man mit dem Begriff Inklusion zeigen will, dass eine Veranstaltung ausdrücklich für alle offen und zugänglich ist, dann lockt das gerade Nichtbehinderte eher nicht hinter dem Ofen vor. Am Ende erreiche man womöglich das Gegenteil von Inklusion. Wie sehen Sie das? Und würde das auch für die Lange Nacht der Inklusion gelten?

Natürlich wollen wir bei der Langen Nacht auch darüber aufklären, was Inklusion bedeutet und wie man sie leben kann. Aber wir wollen vor allem einen coolen Abend haben. Inklusion bedeutet in erster Linie Vielfältigkeit und Miteinander, also ist es klar der Anspruch, dass so ein Abend auch auf Menschen abzielt, die keine Behinderung haben. Auf meinen eigenen Lesungen und Vorträgen zeigt sich auch, dass diese Menschen sehr interessiert sind.

Erzählen Sie mal.

Ich spreche einfach alle an, und die Erfahrung zeigt mir, dass die wenigsten Leute, die zu meinen Veranstaltungen kommen, eine Behinderung haben. Und ich spreche erst mal auch gar nicht über meine Behinderung. Die meisten vergessen nach ein paar Minuten, dass ich im Rollstuhl sitze. Die hören einfach meine Geschichte an. Da wird viel gelacht, nachgedacht. Manchmal weint auch wer, je nachdem, welche Schnittmenge er mit meiner Geschichte hat. Manchen Menschen sieht man ihre Behinderung auch nicht an. Aber wenn du eine Amputation hinter dir hast, kannst du das nicht verstecken. Da musst du halt die Flucht nach vorne antreten und in die Offensive gehen. Das ist jedenfalls meine Methode.

Woher hatten Sie die mentale Kraft, nach Ihrem Unfall so mit Ihrer Behinderung umzugehen? Sind Sie so ein starker Typ?

Klar musste ich mir das erkämpfen, musste sich das entwickeln. Aber ich bin von meinem mentalen Setting her, wie man im Neudeutsch heute so sagt, tatsächlich eher ein starker Typ. Und ich kann auch über mich selbst lachen, das ist ganz wichtig. Man darf nicht alles so ernst nehmen. Und wenn du zum 80. Mal aus dem Rollstuhl fliegst, weil du es mit dem Fahren noch nicht hinkriegst, dann musst du halt kämpfen und es sportlich sehen.

Sie sind da aber nicht gerade der Durchschnitt als Leistungssportler. Vergangenes Jahr sind Sie sogar mit dem Handbike durch Deutschland geradelt . . .

Mit meinem Kameramann schneide ich gerade den Film, den es im Herbst dazu geben wird. Leistungssportler bin ich aber mittlerweile nicht mehr. Mir ist es grundsätzlich wichtig zu zeigen, wie mein Weg war. Dass er anstrengend war, dass man es aber schaffen kann. Das ist etwas, woran Menschen sich aufrichten können, denke ich.

Es muss doch auch schlimme Tiefen gegeben haben.

Klar gab es die. Am Anfang haben mich Leute regelrecht angeglotzt, die haben mich abgescannt. Damit konnte ich damals nicht umgehen, das war schwierig. Ich war jung, vollpubertär, mit 15 Jahren guckst du den Mädchen nach, und plötzlich sitzt du ohne Beine da, bist jahrelang im Krankenhaus und in der Reha. Ich war teilweise auch aggressiv und habe die Leute, wenn sie zu lange geglotzt haben, angesprochen: „Ich bin der Flo Sitzmann – haben Sie eine Frage, oder warum gucken Sie so?“ Da war ich teils schon ziemlich grantig. Manche waren ganz erschrocken, dass der Behinderte mit ihnen redet. Wenige haben sich darauf eingelassen und gesagt: „Ich hab einfach noch nie jemanden gesehen, der so hoch amputiert ist.“ Das war quasi der Anfang meiner Geschichtenonkel-Reise. Ich habe gemerkt, je öfter ich darüber erzähle, desto einfacher wird es für mich.

Hat die Mehrheitsgesellschaft heutzutage eine andere Offenheit und eine andere Aufmerksamkeit für die Belange von Menschen mit Behinderung?

Ich finde schon, dass sich gesellschaftlich was getan hat und die Menschen etwas offener geworden sind. Vielleicht liegt es zum Teil auch am demografischen Wandel.

So eine groß angelegte Lange Nacht der Inklusion, wie Sie sie jetzt in Ludwigsburg moderieren – erleben Sie die öfter?

Nein, das ist was Besonderes, das ist Pionierarbeit und hat in jedem Fall Vorzeigecharakter. Und gerade nach Corona gibt es auch immer noch was aufzuholen, finde ich. Bei dieser Veranstaltung ist so viel los, das ist lustig, bunt, mit viel Musik, auch für Kinder geeignet: Da kann man wirklich erleben, dass Inklusion bedeutet, tolerant zu sein und den anderen so zu nehmen, wie er ist. Und ich freue mich riesig, den Abend zusammen mit Hülya Marquardt zusammen zu moderieren. Wir sind befreundet und haben vor Kurzem mit unseren Partnern und unseren Kids zusammen an der Ostsee Urlaub gemacht.

Wie finden Sie es, dass der Abend an einem Ort ist und nicht auf mehrere verteilt?

Das hat nur Vorteile. Ich bedauere es zwar ein bisschen, dass es nicht im Scala ist, weil das so eine coole Location ist, aber sogar ich, der ich ja sportlich unterwegs, motiviert und interessiert bin, weiß nicht, ob ich zwei oder drei Veranstaltungsstätten besuchen würde. Wenn du zum Beispiel im E-Rollstuhl sitzt und hast noch Sauerstoff dranhängen, ist es ein Riesenaufwand zu organisieren, wie du von A nach B kommst. Wenn du zehn Minuten länger bleiben willst, musst du dir Sorgen machen, dass dein Taxi losfährt, und wirst wieder rausgerissen. An einem Ort kann man die Basics wie eine Rollstuhltoilette bereitstellen und es schick machen. Das ist super.

Beats und Begegnungen

Der Gesprächspartner
Florian Sitzmann, Jahrgang 1976, machte sich als Behindertensportler und Autor einen Namen. Als 15-Jähriger verlor er durch einen schweren Motorradunfall beide Beine. Als Handbiker wurde er mehrfacher deutscher Meister und holte eine WM-Silbermedaille. Beim 560 Kilometer langen Styrkeprøven-Rennen stellte er 2006 einen bis heute ungebrochenen Handbike-Rekord auf – mit 30 Stunden und 30 Minuten nonstop. Sitzmann ist verheiratet und hat drei Kinder. Am Samstag ist er mit Hülya Marquardt und Luk Bornhak Moderator der Langen Nacht der Inklusion in Ludwigsburg.

Die Inklusionsnacht
Kostenlose Kulturangebote aus Musik, Film, Theater, Tanz und Kunst, Essen, Trinken und ein Inklusionslabor mit Rollstuhlparcours, Altersanzügen oder Simulationsbrillen: Das gibt es am Samstag, 22. April, von 17 bis 23 Uhr im Reithaus, Königsallee 43, in Ludwigsburg. Es spielen zum Beispiel die Brenz Band, Groove Inklusion, Lubu Beatz oder Cool Chickpeas. Eine Anmeldung für den Fahrdienst ist bis 20. April unter Telefon 0 71 41 / 14 44 54 22 möglich. Ab 16 Uhr fährt auch ein Shuttle – zwischen Bahnhof (Westausgang) und Reithaus. Der Abend wird überdies gestreamt – Info unter www.scala.live/event/inklusion.