Der Alltag von Wohnungslosen im Kreis Esslingen ist beschwerlich und oft ein Kampf. Sie haben kein wirkliches Zuhause und das Geld ist knapp. Doch in diesem Winter spitzt sich die Situation noch mehr zu.
Anders als in Großstädten wie Berlin oder Stuttgart gibt es in Esslingen kaum Menschen, die ausschließlich „Platte machen“, die unter Brücken oder in Unterführungen mit ihrem Hab und Gut nächtigen müssen. „Wir schätzen, dass es derzeit vielleicht gerade mal eine Handvoll Leute sind“, sagt Anja Wessels-Czerwinski, Bereichsleiterin in Esslingen der Evangelischen Gesellschaft (Eva) und zuständig für den Landkreis Esslingen.
Eßlinger Zeitung – Weihnachtsspendenaktion 2022
Oft seien dies Menschen, die kein Anrecht auf Sozialleistungen haben, mitunter sind es aber auch Personen, die partout in keine Unterkunft möchten. Auch wenn Obdachlosigkeit weniger sichtbar ist als anderswo, darf das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch hier viele Menschen gibt, die durchs Raster fallen. Die persönliche schwierige finanzielle Lage, Wohnraumknappheit und hohe Mieten machen es den Menschen schwer, eine Bleibe auf dem regulären Markt zu finden – und vor allem zu halten. So mancher der in einem der Aufnahmehäuser der Eva – in Esslingen sind es das Berberdorf und die Einrichtung in der Schlachthausstraße – strandet, hat seine Wohnung durch Mietschulden verloren. „Wenn die Miete am Monatsersten fällig wird, der Niedriglohn von der Zeitarbeitsfirma aber erst Mitte des Monats kommt, es keine Rücklagen gibt, ist das ein Problem“, erzählt Wessels-Czerwinski. Manchmal scheitert es auch an Kleinigkeiten: „Wie soll ein Bewohner die Fahrtkosten für eine Wohnungsbesichtigung auftreiben, womöglich mehrmals im Monat?“, fragt sie sich.
Sie befürchtet, dass sich die Situation noch weiter verschärfen wird. „Es werden noch mehr Leute ihre Wohnungen verlieren“, prognostiziert sie. Es gebe viel zu wenig Mietwohnungen und auch beim Neubau gehe es nicht voran. Viele Wohnungen sind zudem kaum erschwinglich. Dazu kommt, dass jetzt auch noch viele Flüchtlinge aus der Ukraine auf den Markt drängen, die dringend eine Bleibe suchen. Viele ihrer Klientinnen und Klienten, die häufig geprägt sind von einem Leben mit vielen Brüchen, Krankheiten oder Sucht, hätten deshalb bereits resigniert. „Jetzt habe ich ja erst recht keine Chance mehr, eine Wohnung zu finden“, ist so ein Satz, den die Mitarbeiterinnen der Eva in letzter Zeit oft zu hören bekommen. Es wird sich also wohl nichts daran ändern, dass auch in Esslingen Wohnungslose zum Stadtbild gehören, etwa rund um den Bahnhof. „Die Straße ist tagsüber ihr Wohnzimmer, hier treffen sie sich“, erklärt Wessels-Czerwinski. Eine erste Anlaufstelle für Menschen, die kein Dach über dem Kopf mehr haben und nicht wissen wohin, ist in der kalten Jahreszeit der Erfrierungsschutz in der Fleischmannstraße. Ein paar wenige Nächte können Frauen und Männer dort Unterschlupf bekommen. Der Zulauf ist in diesem Jahr besonders groß. „Wir sind voll“, sagt Anja Wessels-Czerwinski.
Das Geld reicht hinten und vorne nicht aus
Dass sich derzeit gleich mehrere Krisen überlagen, bekommen vor allem die Menschen am Rand der Gesellschaft zu spüren. Die Inflation und die gestiegenen Preise treffen vor allem die Wohnungslosen, die oft von Hartz IV leben müssen, mit voller Wucht. „Das Geld reicht einfach nicht mehr“, sagt Anja Wessels-Czerwinski. Klamm waren ihre Klienten schon immer, aber jetzt werden es immer mehr, die bis zum Monatsende nicht mehr über die Runden kommen. Das zeigt sich auch am Notfallfonds der Eva Esslingen. Der ist schon seit einiger Zeit komplett ausgeschöpft. „Das gab es noch nie“, sagt die Bereichsleiterin. Zum Glück konnte sie beim Eva-Basar in Stuttgart mit einem Stand teilnehmen und so rund 350 Euro erwirtschaften, die jetzt nachträglich in den Fonds kommen. Aus dem Notfallfonds, ausgestattet mit rund 3500 Euro, können Menschen in akuter Not eine finanzielle Überbrückung bekommen. In der Regel zahlen sie das Geld wieder zurück, sobald sie dazu in der Lage sind. Aber auch das wird für viele immer schwieriger.
Corona wirkt nach und verschlimmert die Probleme
Zudem hat die Pandemie weiterhin Auswirkungen, auch wenn viele Einschränkungen längst aufgehoben sind. „Wir spüren das knallhart“, sagte Anja Wessels-Czerwinski, „Corona hat Spuren hinterlassen – in allen Bereichen.“ Die Pandemie sei wie ein Verstärker, die Probleme würden seitdem krasser zutagetreten: Die Schere zwischen Arm und Reich sei noch weiter geworden, die Suchtprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten vieler Bewohner hätten zugenommen, viele fühlten sich abgehängt und einsam. „Es ist alles viel kantiger geworden“, sucht die Bereichsleiterin nach Worten, um die Veränderungen zu beschreiben. Die Betroffenen hätten häufig so komplexe Probleme, dass es immer schwieriger werde, sie adäquat zu betreuen. Das Hilfssystem sei dadurch zunehmend überlastet und mitunter hilflos. Dazu kommt, dass es in vielen Ämtern Personalmangel gebe und der Corona-Rückstau nur langsam abgebaut werden könne. Deshalb müssten ihre Klienten oft warten, bis Anträge bearbeitet oder wichtige Papiere vorliegen, die unter Umständen Voraussetzung für weitere Unterstützung sind.
EZ-Weihnachtsspendenaktion unterstützt Kässle der Kirche
Der Alltag von Wohnungslosen ist beschwerlich und oft ein Kampf. Spontan und vor allem sehr unbürokratisch will auch die Kirche hier helfen. Wenn ein Hilfesuchender buchstäblich vor der Kirchentür steht oder beim Dekanat vorspricht, soll niemand abgewiesen werden. Dafür gibt es extra eine Kasse, um diesen Menschen einen Geldbetrag mitgeben zu können. Die EZ-Weihnachtsspendenaktion unterstützt diese sehr niederschwellige Hilfe. „Es ist Geld, das unmittelbar ankommt“, sagt der Esslinger Dekan Bernd Weißenborn, „wir sind so sehr flexibel und können schnell helfen“. Verstärkt durch die Energiekrise würden immer häufiger auch andere Personen um Hilfe bitten. Verteilt werden nur Kleinstbeträge von fünf bis zehn Euro, alles wird genau notiert.
Hilfe für wohnungslose Menschen
Anlaufstelle
Die Fachberatungsstellen der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in Esslingen, Nürtingen und Plochingen beraten, begleiten und unterstützen Menschen, die in Armut, Wohnungsnot und Ausgrenzung leben. Die Hilfesuchenden haben oftmals vielschichtige Probleme, die sie aus eigener Kraft nicht überwinden können. Allein in Esslingen werden rund 350 Beratungen im Jahr durchgeführt.
Unterbringung
Das Aufnahmehaus Schlachthausstraße und das Berberdorf, ein deutschlandweit einmaliges Hüttendorf, bieten in Esslingen insgesamt 71 Plätze für Frauen und Männer in akuter Wohnungsnot. Träger ist die Eva, die mit zahlreichen anderen Einrichtungen kooperiert, etwa mit dem Kreis und der Stadt Esslingen, mit der Arge, dem Jobcenter, dem Tagestreff St. Vinzenz oder dem Verein Heimstatt.