Mit hunderten roter Schuhe haben im November 2020 Aktivisten am Esslinger Postmichelbrunnen der Frauen gedacht, die durch ihre Partner getötet wurden. Foto: Roberto Bulgrin

Die tödlichen Schüsse auf eine 58-Jährige in Kirchheim Mitte Februar haben Entsetzen ausgelöst. In den vergangenen fünf Jahren zählte die Polizei im Kreis Esslingen acht weitere Fälle von vollendeter oder versuchter Tötung von Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner. Opferberaterinnen schlagen Alarm.

Kreis Esslingen - Sie hatte riesige Angst und fühlte sich ständig bedroht“, schilderte Mark Sailer, der Geschäftsführer eines Kirchheimer Bioladens, kurz nach den tödlichen Schüssen auf seine Mitarbeiterin vor zwei Wochen die Gefühlslage der Frau in den Tagen vor der Tat. Die 58-Jährige wurde auf offener Straße von ihrem Ehemann getötet, anschließend erschoss sich der Mann selbst. Zuvor hatte sich die Frau von dem 59-jährigen Polizisten getrennt. Die Öffentlichkeit zeigte sich bestürzt über das Verbrechen. „Wenn so etwas vorfällt, sind alle hellhörig“, sagt Saskia Wiesner vom Verein Frauen helfen Frauen Kirchheim. Die Sozialpädagogin im Frauenhaus und andere Opferberaterinnen im Kreis Esslingen wollen erreichen, dass die Aufmerksamkeit für Gewalt gegen Frauen bleibt und nicht verpufft. „Es ist ein Dauerthema.“

Auch Begriffe können verharmlosen

„Alle dreieinhalb Tage stirbt eine Frau in Deutschland durch die Hand ihres Mannes oder Ex-Partners.“ Wiesner zitiert die Organisation One Billion Rising, die in Medienberichten des Jahres 2021 mehr als 100 sogenannte Femizide gezählt hat. Der Begriff bezeichnet die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Er richtet sich gegen eine von Opfervertretern beklagte Verharmlosung der Gewalt in Partnerschaften – beispielsweise in Medien, die teilweise von „Familiendrama“ oder „erweitertem Suizid“ berichteten. Denn meist geschehe die Gewalttat nicht spontan, sondern geplant. Darauf machten Aktivisten im Rahmen einer weltweiten Aktion im November 2020 auch in Esslingen aufmerksam.

Im Kreis Esslingen verzeichnet die Polizei für die Jahre 2017 bis 2021 acht Fälle von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten in Partnerschaften, bei denen der Mann der Täter und die Frau das Opfer war. In diesem Jahr folgte der gewaltsame Tod der 58-Jährigen in Kirchheim. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir hier schon mal so einen Fall hatten“, sagt Irmgard Pfleiderer, die seit 2004 ebenfalls bei Frauen helfen Frauen arbeitet. Viele Frauen im Kreis Esslingen erführen Gewalt und Bedrohung, die wenigsten Männer machten jedoch ihre Drohungen wahr, sagt sie.

Jede Drohung hat das Potenzial, umgesetzt zu werden

„Natürlich führt nicht jede Drohung zur Tötung. Aber jede Drohung hat das Potenzial dazu“, sagt Tanja Schneider von der Beratungs- und Interventionsstelle von Frauen helfen Frauen Filder. 2021 war in Ostfildern-Kemnat eine 34-Jährige von ihrem Ehemann erschossen worden, als sie sich scheiden lassen wollte und das Sorgerecht für die Tochter forderte. „Es bestürzt uns zutiefst“, sagt Schneider. Ein Thema sei die Gefährdungseinschätzung. Die ersten Wochen der Trennung seien die gefährlichsten. Es stelle sich die Frage, ob die Frau zum eigenen Schutz in ein Frauenhaus ziehen wolle, in der Regel weiter entfernt vom Wohnort. Ein hoher Preis. „Die Frau muss ihr Umfeld erst mal verlassen.“ Sie müsse zu ihrem Schutz Job und Freundeskreis aufgeben, die Kinder die Schule oder Kita – während der Ex in seinem Umfeld bleiben kann. „Das ist absolut ungerecht, empörend und wir müssen das aushalten“, so Schneider.

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Auch wenn die Frau sich entscheide, nicht unterzutauchen, unterstütze man sie. Opfer von Gewalt haben die Möglichkeit, sich bei der Polizei zu melden. Diese könne beispielsweise den Mann für mehrere Tage der Wohnung verweisen. Auch ein Näherungsverbot sei möglich. „All das ist aber kein absoluter Schutz.“ Besonders gefährlich seien Männer, die nichts zu verlieren hätten, denen staatliche Interventionen egal seien. Schneider betont aber, dass die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendamt und Fachberatungsstellen im Landkreis gut sei.

Corona verstärkt die Belastung

Meist geht der Trennung eine lange Eskalationsphase voraus. Diese beginne nicht immer mit einem Schlag, sondern teilweise subtiler, mit Eifersucht und sozialer Isolation, schildert Schneider. Die Frau wird kontrolliert, ihr Selbstbewusstsein demontiert. Corona hat die Belastung in vielen Familien erhöht – und in den Lockdownphasen die Möglichkeit für Frauen eingeschränkt, sich Hilfe zu suchen. „Als wieder gelockert wurde, kamen verstärkt Anfragen“, sagt Schneider.

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Oft harrten Frauen lange in der Gewaltbeziehung aus, teilweise 20 bis 30 Jahre, bis sie Hilfe suchten, sagt Pfleiderer. Teilweise, um ihre Kinder nicht zu belasten. Aber auch, weil ihnen das Selbstbewusstsein fehlt. „Oft merken Frauen nicht, dass es nicht okay ist, wie sie behandelt werden“, sagt Wiesner. Die Kirchheimer Opferberaterinnen wollen die Öffentlichkeit sensibilisieren. „Sobald es bei einer Gewalttat um ein Paar geht, denken die meisten: Das hat nichts mit mir zu tun“, sagt Wiesner. Doch es sei ein gesellschaftliches Problem, das alle sozialen Schichten betreffe. „Alle müssten etwas tun, um diesen Familien zu helfen.“ Wichtig sei, Hilfe anzubieten, appelliert Wiesner. Problem ist allerdings auch, dass viele Frauenhilfsvereine unterfinanziert sind. Frauen helfen Frauen in Kirchheim ist in dieser Hinsicht besser aufgestellt. Aber auch hier gibt es zu wenig Plätze im Frauenhaus. „2020 mussten wir zum Beispiel wegen Vollbelegung 56 Anfragen ablehnen.“