Je nach Lichteinfall wirkt das Kunstwerk „Zwölf Punkte für sechs Linien“ besonders stark. Foto: Horst Rudel

Silberne Linien inmitten des historischen Fachwerkensembles: die Installation des Schweizer Künstlers Felice Varini ist noch bis Mitte Januar 2023 in der Kirchheimer Altstadt zu sehen – und es eröffnet neue Blicke auf die Altstadt.

Staunend stehen die drei Grundschüler vor dem Rathaus in Kirchheim: „Was sind denn das für Strahlen?“, fragt einer der Jungen seine Mutter. Das silberne Kunstwerk von Felice Varini, der die illusionistische Malerei im öffentlichen Raum perfektioniert hat, zieht die Blicke auf sich. Selbst im trüben Herbstlicht entfalten die bemalten Alustreifen ihren Glanz. Drei Monate wird die Installation nun in der Max-Eyth-Straße zu sehen sein. Mit einer spektakulären Aktion hat der Schweizer Maler, der in Paris lebt, die Farbbänder an den Fachwerkhäusern vom Rathaus bis zum historischen Kornhaus aufgebracht. Kunstbegeisterte Kletterer aus Frankreich und Italien haben den bekannten Künstler dabei unterstützt.

„Den kräftigen Farben der Gebäude habe ich diesen ruhigen, klaren Silberton entgegengesetzt“, sagte Varini bei der Vernissage. Zwischen Rathaus, Spital und Kornhaus war für ihn der ideale Platz. Da verdichte sich das Gesicht der Altstadt. Den Kontakt zum Kunstbeirat Kirchheim hat der Architekt Florian van het Hekke geknüpft, der in Kirchheim arbeitet und in Erfurt als Professor lehrt. „Erst mal hat er mich angeschrieben, dann haben wir uns ausgetauscht. Da bekam ich Lust, nach Kirchheim zu kommen“, berichtet der 70-jährige Felice Varini. Der Architekt habe ihn so motiviert, dass er sich die Zeit im vollen Terminkalender freigeschaufelt habe. 2018 hat er die berühmte Festung in Carcassonne in Südfrankreich mit gelben Farbbändern in eine Zielscheibe verwandelt.

Perspektivische Illusionskunst

Florian van het Hekke, der im Kunstbeirat der Stadt sitzt, hat die perspektivische Illusionskunst der Malers immer fasziniert. „Seine Leinwand ist der öffentliche Raum“, bringt es der innovative Kirchheimer Architekt auf den Punkt. Für seine künstlerischen Eingriffe nutze Varini die Oberflächen städtischer Architektur und thematisiere deren Geschichte und Funktion. „Er macht die Blickachsen sichtbar.“ Dabei arbeite er mit einfachen geometrischen Strukturen wie Kreis, Ellipse, Linie oder Dreieck. Florian van het Hekke freute sich, dass Varini im Dezember 2021 nach Kirchheim kam, die Stadt stundenlang auf sich wirken ließ. „Dann schickte er erste Pläne, die uns alle begeistert haben.“

Den Charakter einer Stadt zu erfassen, das ist Varini wichtig. Die Malerei auf Leinwand habe er vor 40 Jahren aufgegeben, „weil mich das Abenteuer der Dreidimensionalität fasziniert.“ Seine Installation trägt den Namen „Zwölf Punkte für sechs Geraden.“ Steht man an einem bestimmten Punkt auf der Straße, scheint ein Stern oder Komet aus der Fachwerkfassade hervorzuschießen. Diese Illusion entsteht nur, wenn die Geometrie auf den Zentimeter genau stimmt. Verlässt man diese Perspektive, zerfallen die Linien. Dieses Zersplittern verwirrt die Betrachter. Es spiegelt den Geist der schnelllebigen Zeit.

Nachts wurde mit Bühnenscheinwerfer gearbeitet

Um solche Illusionen zu erzeugen, haben der Maler und sein Team nachts mit einem Bühnenscheinwerfer gearbeitet – mit den Kletterern projizierte er Linien auf die Häuser. Nachdem diese markiert waren, wurde die silberfarben bemalte Alufolie aufgetragen – sie lässt sich am Ende des Projekts spurlos entfernen. „Die Folie passt sich an den Untergrund an“, erklärt der Künstler. Auf Stein wirkt sie anders aus als auf dem tiefbraun gebeizten Holz des Fachwerks. Mit dieser Vielschichtigkeit spielt Varini. Seine Kunst hat ihre Wurzeln im Barock. Damals wurden die Bilder, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel zu entschlüsseln sind, für geheime Botschaften genutzt.

Das Projekt in der Stadt durchzusetzen, war nicht leicht. Obwohl Florian van het Hekke und die Kunsthistorikerin Susanne Jakob vom Kunstbeirat 70 Prozent der Kosten über Stiftungen und Spenden eingetrieben haben, mussten die Kommunalpolitiker überzeugt werden. Herausfordernd fand der Architekt die Verhandlungen mit den Denkmalschützern, mit den Bewohnern und Geschäftsleuten: „Am Ende haben wir alle überzeugt.“ Mit seiner mitreißenden Art hat er schnell Skepsis abgebaut.

OB betont gesellschaftliche Bedeutung des Projekts

„Jetzt ist ein Kunstwerk entstanden, das den Menschen einen neuen Blick auf die Stadt öffnet“, findet die Stadträtin Marianne Gmelin (SPD). „Neulich ging ich im strahlenden Sonnenschein vorbei, da hat alles geglänzt.“ Je nach Lichteinfluss wandelt sich der Anblick. Seinen Stolz verhehlt Oberbürgermeister Pascal Bader nicht. Zugleich sieht er die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit im öffentlichen Raum: „Kunst ist für die Menschen in unserer Stadt eine Daseinsvorsorge.“ Bader hebt hervor, dass das Projekt in Kirchheim erst die zweite Arbeit des international gefragten Künstlers in Deutschland ist – seine erste hat er in Osnabrück realisiert. Mit einem Begleitprogramm macht der Kunstbeirat das Publikum mit der modernen Kunst vertraut. Susanne Jakob hofft, dass Schulklassen das Angebot nutzen, die Arbeit des international renommierten Künstlers kennenzulernen: „Junge Menschen haben so die Chance, sich mit der Geschichte und Entwicklung der illusionistischen Malerei zu beschäftigen.“

Die Installation „Zwölf Punkte für sechs Geraden“ ist bis zum 15. Januar 2023 in der Max-Eyth-Straße in Kirchheim zwischen Rathaus und Kornhaus zu sehen.

Leben
 Felice Varini wurde 1952 in Locarno im Tessin geboren. Der Künstler aus der Schweiz lebt seit und arbeitet seit 1980 in Paris. Varini ist ein Maler, der, ähnlich wie ein Installationskünstler, die Architektur eines städtischen Raums als Hintergrund nutzt.

Begleitprogramm
 Der Kunstbeirat bietet Begleitveranstaltungen an. Florian van het Hekke lädt zum architektonischen Freihandzeichnen ein (am 12. November und 17. Dezember); Susanne Jakob und Monika Schaber bieten Streifzüge am 6. und 27. November.  

Broschüre
 Um den kunsthistorischen Hintergrund zu vermitteln, hat der Kunstbeirat eine Broschüre mit Fotos herausgegeben. Sie ist kostenlos in Kirchheimer Geschäften zu haben. Infos gibt es auch unter https://staedtischegaleriekirchheim.com/