Die Bodenmarkierungen als Wegweiser überfordern viele Bahnreisende. Quelle: Unbekannt

Der Umbau des Hauptbahnhofs erfordert von Bahnreisenden viel Toleranz und Improvisationskunst. Für Senioren und Gehbehinderte kann der Weg zum Gleis quälend lang sein.

StuttgartRenate Krausnick-Horst ist mit ihren 88 Jahren noch gut zu Fuß, und auch Werner Schüle (82) ist für sein Alter sehr behände. Die Vorsitzende des Stadtseniorenrats und ihr Stellvertreter schaffen es in gut zehn Minuten von der Klettpassage durch die Baustelle Bonatzbau zum DB-Reisezentrum, das wegen der Umbauarbeiten jetzt in der ehemaligen Schalterhalle der BW-Bank im Innenhof der LBBW-Zentrale untergebracht ist. Was sie auf dem Weg dorthin erleben müssen, versetzt die beiden rüstigen Senioren dennoch in Rage. „Die Beschilderung ist miserabel, die auf den Boden aufgeklebten Wegweiser sind unleserlich und lösen sich ab, und es gibt keine Sitzgelegenheiten für ältere oder gebrechliche Menschen auf dem weiten Weg zum Reisezentrum“, beklagt Krausnick-Horst, die sich gemeinsam mit Schüle für die Interessen der älteren Generation in Stuttgart engagiert.

Schüle ergänzt: „Es gibt viel zu wenig Golf-Cars, mit denen ältere Menschen zum Reisezentrum oder zum Bahnsteig transportiert werden könnten.“ Auf Nachfrage erläutert einer der von der Bahn während des Umbaus eigens eingesetzten „Baustellen-Buddys“, eines der beiden Fahrzeuge sei derzeit wegen Reparaturarbeiten außer Betrieb. Reisende könnten ein solches Gefährt jederzeit über das Internet ordern – „am besten einen Tag vor der Bahnfahrt“. Für Schüle ein Unding: „Viele ältere Menschen finden sich im Internet und erst recht auf den Seiten der Bahn nicht zurecht, und zwei Caddies für einen Bahnhof dieser Größenordnung ist viel zu wenig.“

Das kann zur Quälerei werden

Auf dem Weg durch den Bonatzbau Richtung Norden zum Reisezentrum müssen die Bahnreisenden erst einmal einen provisorischen Steg überqueren, der zurzeit die Baugrube für den neuen Durchgangsbahnhof überspannt und am Querbahnsteig endet. Auch hier: Keine Bänke oder Stühle, auf denen sich nicht mehr ganz so rüstige Senioren – zumal mit Gepäck – kurz ausruhen könnten. Und auch im Reisezentrum selbst weit und breit nicht ein Stuhl, obwohl augenscheinlich reichlich Platz vorhanden wäre. Renate Krausnick-Horst, die häufig zu ihrer Tochter nach München fährt, weiß, dass sich zu den Hauptverkehrszeiten lange Menschenschlangen an den zehn Schaltern im Reisezentrum bilden: „Das dauert dann schon mal bis zu 30 Minuten, bis man sein Ticket hat.“ Dann geht’s zum Gleis 16, dafür muss der gesamte Bonatzbau nochmals in Richtung Südosten durchquert werden. „Da kommt schon mal eine knappe Stunde Gehen und Stehen zusammen“, sagt Schüle. Für Menschen, die etwa an Arthrose leiden, kann das zur Quälerei ausarten.

Was die beiden Senioren so auf die Palme bringt, ist die Tatsache, dass die Bahn offenbar die Bedürfnisse eines Teils ihrer Klientel so schnöde ignoriert. Dabei sind sowohl Krausnick-Horst als auch Schüle eigentlich Stuttgart-21-Befürworter, haben bei der Volksabstimmung 2011 über den Tiefbahnhof wie die Mehrheit für’s Weiterbauen votiert. „Man hat immer von Übergangslösungen gesprochen – aber nicht davon, dass die Jahre dauern“, erinnert sich Schüle. Und Krausnick-Horst sagt, sie habe lange auf die Versprechungen der Bahn vertraut – zu lange. Jetzt reicht’s den beiden: Sie fordern Nachbesserungen seitens der Bahn und Druck seitens der Projektpartner Stadt und Land, die Infrastruktur für gehandicapte und ältere Menschen nachzubessern.

Neues Servicegebäude am Gleis 1

Die Bahn sieht dazu auf Anfrage allerdings wenig Möglichkeiten. Immerhin: Man prüfe „die Einrichtung weiterer Sitzgelegenheiten“ zwischen Bahnsteigen und Bonatzbau, so ein Bahnsprecher. Im provisorischen Reisezentrum selbst sei dies wegen des Brandschutz- und Fluchtwegekonzepts nicht möglich. Die Bahn verweist auf das von Ende September an zur Verfügung stehende neue Servicegebäude am Gleis 1, das einen beheizten Warteraum mit ausreichend Sitzgelegenheiten bieten soll. Die Kapazität der zwei Caddies für den Transport von gehbehinderten Menschen zum Gleis sei gemessen an der Anzahl an Anfragen für diesen Service „ausreichend bemessen“.

Dass das Reisezentrum weit weg vom Haupteingang angesiedelt wurde und nicht etwa in der Klettpassage, begründet der Bahnsprecher damit, dort habe es keine geeigneten Flächen „in ausreichendem Umfang“ gegeben. Der neue Standort verkürze im Vergleich sogar die Reisewege zwischen Fahrkartenschalter und den Bahngleisen.

Grundsätzlich sei das aktuelle Angebot für Senioren und Behinderte Menschen in enger Abstimmung mit mehreren Behindertenverbänden und dem Arbeitskreis Barrierefreies Stuttgart 21 entstanden, in dem auch der Stadtseniorenrat vertreten sei. Gleichwohl lasse es sich bei einem so komplexen Bauvorhaben nicht vermeiden, dass sich „aus der Praxis heraus noch Verbesserungspotenziale ergeben“. Daher sei man gern bereit, mit dem Stadtseniorenrat eine Ortsbegehung vorzunehmen, um etwa bei den Bodenmarkierungen Schwachstellen zu identifizieren.

Der angebotene Ortstermin mit Krausnick-Horst und Schüle dürfte für die Bahn kein leichter Gang werden. Die beiden Seniorenvertreter sind wild entschlossen, dem Schienenkonzern die Leviten zu lesen. Am Geld könne die Verbesserung der Situation wohl kaum scheitern.