Die Straßenfasnacht ist abgesagt. In Rottweil wird die fünfte Jahreszeit von zu Hause aus eingeläutet. Foto: privat

Mit der Absage aller Veranstaltungen haben die Narren viel Vernunft bewiesen, sagt der Fasnachtsexperte Werner Mezger. Das sei nicht immer so gewesen.

Rottweil - Diesmal ist schon vor Aschermittwoch alles vorbei. Die Fasnacht fällt aus. Die sonst so unvernünftigen Narren erwiesen sich in der Pandemie als erstaunlich vernünftig, sagt Werner Mezger. Im Interview erklärt der inoffizielle Fasnachtsprofessor, warum die Narren so tapfer sind und dass ihnen die schöpferische Pause erstaunlich gut tut.

Herr Professor Mezger, haben Sie Ihr Häs dieses Jahr überhaupt abgestaubt?

Nein, mein Narrenkleid, wie es bei uns in Rottweil heißt, ruht und hat einfach ein Jahr Pause. Es wird mich seelisch auch nicht allzu sehr belasten. 2021 ist ein Jahr des Nachdenkens und Besinnens und speziell für die Fasnacht vielleicht auch ein Jahr der kreativen Ideen.

Die Narren haben schweren Herzens, aber doch konsequent alle Veranstaltungen abgesagt. Warum ging das so geräuschlos?

Das war kein Kleinbeigeben und auch keine Charakterschwäche, sondern – im Gegenteil – ein Zeichen von großer Stärke und Verantwortungsbewusstsein. Die Narren haben in diesem Fall sehr viel Vernunft bewiesen. Mir scheint das bemerkenswert, weil sonst die Bühne der Narren ja die Unvernunft ist. Die haben in diesem Jahr aber andere übernommen, wenn ich an Coronaleugner und Verschwörungsgläubige denke.

Zuletzt fiel die Fasnacht 1991 wegen des Golfkriegs aus. Hinterher war das sehr umstritten.

Ja, da hieß es dann vollmundig: „Brauchtum kann man nicht absagen. Wir sind eingeknickt.“ Aber was viele nicht mehr wissen: Damals stand die Drohung im Raum, dass vom Irak aus Raketen deutscher Bauart auf Israel abgefeuert würden. Daraufhin hat man in Deutschland konsequenterweise gesagt: Sollte dies eintreten, kann man hier nicht Fasnacht machen. Das war also eine hoch sensible Situation. Kleine, spontane Fasnachtsformen gab es dann aber doch. In Rottweil kam ein Mini-Narrensprung zustande. In Villingen hat ein Narr sein Häs auf sein Leiterwägelchen geladen und es in Zivil durch die Gassen gezogen. „Des Häs darf“, stand auf einem Zettel.

Die ausgefallene Fasnacht hat ein paar ausgefallene Ideen hervorgebracht, haben Sie einmal gesagt. Und diesmal?

Auch jetzt gibt es spannende Alternativformate vor allem im virtuellen Bereich, wo man sieht: Narren können kreativ sein. Ich habe an Dreikönig zum Beispiel auf Youtube drei wunderbare Versionen des Rottweiler Narrenmarsches gehört: als A-cappella-Version in der Tradition der Comedian Harmonists, dann nur von einer Gitarre gespielt, und eine dritte von der Orgel des Münsters. Die Schonacher Narren haben einen Fasnachtsumzug im Kinderzimmer nachgespielt mit Kommentierung. Das ist auch sehr witzig.

Seuchen gab es im Laufe der Geschichte immer wieder. Hatte das auch früher Auswirkungen auf die Fasnacht?

In Pestzeiten hat niemand an Fasnacht gedacht und auch nicht bei späteren Pandemien wie etwa der Cholera. Gut dokumentiert ist etwa ein Fall, der sich 1832 in Paris ereignet hat: Bei einem Maskenball fällt ein Narr tot um. Seine Maske wird ihm abgezogen, er ist ganz blau im Gesicht und man stellt fest, dass er der erste Choleratote in der Stadt ist. Er wird dann aus Angst vor Ansteckung direkt in seinem Kostüm begraben. Man weiß das deswegen so genau, weil Heinrich Heine darüber einen recht makabren Bericht für die Augsburger Allgemeine geschrieben hat: So lustig wie der Maskierte gewesen sei, habe man ihn auch beerdigt.

Fasnacht gilt als „organisierte Fröhlichkeit“. Aber ist sie nicht auch wild, sodass sie sich kaum absagen lässt?

Zu behaupten, die Fasnacht würde sich spontan oder von selbst entwickeln, halte ich für Sozialromantik. Das ist wie die Vorstellung von Johann Gottfried Herder von der dichtenden Volksseele, auf die seiner Meinung nach Volkslieder zurückgingen. Nein, Fasnacht war schon immer hochgradig organisiert. Als der rheinische Karneval 1823 neu geboren wird und nach Jahren des Verbots ein erster Karnevalsumzug durch Köln zieht, steht dahinter kein Chaosclub, sondern ein „Festordnendes Komitee“. Das zeigt deutlich: Fasnacht braucht Ordnung und Reglementierung und kann auch nur so funktionieren.

Es gibt gar keine Freiräume?

Doch. Jede Fasnacht hat ein repetitives und ein innovatives Element. Da ist das „Alle Jahre wieder“ und man freut sich drauf. Aber es ist auch jedes Jahr ein bisschen anders. Deshalb stellen sich die Leute immer wieder zum Umzug an den Straßenrand. Für Auswärtige mag es vielleicht das Gleiche sein, für Einheimische nicht, da gibt es kleine Varianten, die spannend sind. Einerseits schafft die jährliche Wiederbegegnung mit dem Vertrauten Geborgenheit. Und andererseits sind für Kenner immer kleine Überraschungsmomente dabei, die jährlich wechseln. Darin liegt der Reiz einer jeden Traditionsfastnacht.

Würden Sie sagen, die Fasnacht ist systemrelevant?

Mehr noch: Sie ist hochgradig systemstabilisierend. Anders als von manchen Sozialhistorikern behauptet, ist Fasnacht eben keine temporäre Revolution, bei der die kleinen Leute gegen die Obrigkeit aufbegehren. Sie nimmt zwar bestehende Ordnungen ein bisschen aufs Korn, aber stabilisiert sie damit im Grunde. Fasnacht ist ein Gegenentwurf zum Alltag. Und genau deshalb braucht sie den Alltag und löst ihn nicht etwa auf. Konsequent weitergedacht darf man sogar fragen, ob der Alltag nicht auch die Fasnacht braucht.

Wenn sie so wichtig ist, wäre es dann nicht eine gute Idee, sie in diesem Jahr im Sommer nachzufeiern? Dann wäre es mal ein bisschen brasilianisch…

Sommerfasnet wäre total daneben. Jeder, der sich mit der Tradition verbunden fühlt, lehnt das ab. Fasnacht ist jahreszeitlich ganz klar gebunden. Sie ist die Nacht vor der Fastenzeit, und das gilt seit 1000 Jahren. Die römische Kirche hat den Aschermittwoch auf den 46. Tag vor Ostern gelegt – 40 Fastentage und sechs Sonntage, an denen nicht gefastet wird. Würde man die Fastnacht in den Sommer verschieben, wäre sie kulturhistorisch entwurzelt. In unserer säkularen Zeit sind wir uns gar nicht mehr im Klaren darüber, wie sehr wir in einem Kalender beheimatet sind, der in römischer Zeit entstanden ist und dessen Festtermine vom Kirchenjahr geformt wurden. Diesen Kalender kann man nicht einfach umbauen.

Wenn Fasnacht jetzt ausfällt, muss man dann überhaupt noch fasten?

Sicherlich wird die Fastenzeit von religiös orientierten Menschen immer noch zur Besinnung genutzt, Abstinenz beim Essen spielt hier inzwischen eher eine untergeordnete Rolle. Aber im Rahmen der neuen Religion, die heute für viele Gesundheit, Wellness und Wohlbefinden heißt, ist Fasten plötzlich doch wieder ein Thema geworden, wenn auch aus anderen Gründen.

Werner Mezger habilitierte sich 1989 mit einer Schrift zur Narrenidee und zum Fasnachtsbrauch und lehrte später als Professor für Kulturanthropologie an der Uni Freiburg. Er ist emeritiert, leitet aber weiterhin das Institut für Volkskunde der Deutschen des westlichen Europas.

Der 69-Jährige ist in Rottweil geboren und verbringt die Fasnacht dort als normaler Laufnarr – vorausgesetzt er hat Zeit. Denn meist ist er als Fasnachtsexperte unterwegs. Einem breiteren Publikum ist er als Co-Moderator der Fasnachtsübertragungen des Südwestrundfunks (SWR) bekannt. Mit seiner Expertise war Mezger maßgeblich beteiligt an der Aufnahme der schwäbisch-alemannischen Fasnacht in die nationale Liste des immateriellen UN-Kulturerbes.