Benjamin Diederich und Michaela Pairamidou führen ein Geschäft für Genusswaren mit neuem Konzept weiter – das „Peakfein“. Foto: Oliver Nestola

Zahlreiche Unternehmer gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Die Nachfolgeregelung wird laut einer Studie der Landesbank Baden-Württemberg eine große Herausforderung.

Die Verkaufsangebote auf der Online-Plattform Nexxt-Change erinnern ein wenig an Kontaktanzeigen. Der „Spezialist für ökologische Jungpflanzen“ oder die „stilvolle Modeboutique“ suchen hier nach Partnern für eine gemeinsame Zukunft. Denn Nexxt-Change ist eine Unternehmensnachfolgebörse: Hier inserieren Inhaberinnen und Inhaber, die ihren Betrieb verkaufen möchten.

Umgekehrt gibt es natürlich auch Kaufgesuche – allerdings verhältnismäßig wenige. Auf jeden Interessenten kämen auf der Online-Plattform rein rechnerisch rund drei Angebote, stellt die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in einer Analyse fest, die unserer Zeitung vorliegt. „Der Mittelstand steht vor einer gewaltigen Nachfolgeherausforderung“, schreiben Analyst Andreas da Graça und und seine Kollegin Sarah Fliege.

Viele Unternehmer sind in die Jahre gekommen

Laut einer Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) sind 28 Prozent der Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen über 60 Jahre alt. Sie gehören den geburtenstarken Babyboomer-Jahrgängen an – in den darauffolgenden Generationen rücken nicht so viele Menschen nach.

Überdies ist das Interesse an Selbstständigkeit und Unternehmertum bei den Jüngeren gering. „Die Bedeutung der Work-Life-Balance hat für junge Leute enorm zugenommen. Die haben schon klar vor Augen, was Selbstständigkeit heißt: selbst und ständig“, sagt Markus Linha, Leiter Geschäftskunden und Freie Berufe bei der BW-Bank. Während die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt in den vergangenen zehn Jahren um rund drei Millionen gestiegen ist, ging die Zahl der Selbstständigen zurück: von 4,5 Millionen 2011 auf 3,9 Millionen im vergangenen Jahr.

190 000 Familienbetriebe steuern auf eine Übergabe zu

Die LBBW verweist auf Schätzungen, wonach bis 2026 in 190 000 Familienbetrieben bundesweit eine Übergabe ansteht. Das eröffne jungen Menschen auch große Chancen, betont Linha. Als vorbildliche Initiative bezeichnet sein Kollege da Graça das Centre for Entrepreneurship an der Hochschule Reutlingen. Und: Ältere Unternehmer sollten frühzeitig mit der Nachfolgeplanung beginnen. „Da kann man sich ruhig schon mit 50 Gedanken drüber machen“, sagt Linha.

Auch die Politik hat das Problem erkannt: Das Landeswirtschaftsministerium fördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds eine sogenannte Nachfolgemoderation, die unter anderem von der Industrie- und Handelskammer (IHK) sowie der Handwerkskammer in Stuttgart kostenlos angeboten wird.

Mit der Übergabe ändert sich auch das Konzept

Begleitet hat IHK-Nachfolgemoderator Alexander Ummenhofer beispielsweise die Übergabe eines Tabakwaren- und Spirituosengeschäfts in Göppingen, das seit der Neueröffnung im Mai unter dem Namen „Peakfein“ firmiert. Benjamin Diederich und Michaela Pairamidou haben ergänzend zu dem kleinen Laden einen Online-Shop aufgebaut und wollen ihre Produkte, von Pfeifentabak über Gin bis zu edler Schokolade, bundesweit vertreiben.

Im Sommer 2020 hatte Diederich – privat schon lange ein Zigarrenliebhaber – erfahren, dass der bisherige Inhaber seinen Ruhestand plante. Nach zwei Tagen Hospitation im Geschäft fiel sein Entschluss, den Laden weiterzuführen. Das kaufmännische Know-how brachte Pairamidou ein. Eineinhalb Jahre dauerte es, bis die beiden mit Unterstützung eines Anwalts, einer Unternehmensberaterin und der IHK einen Geschäftsplan erstellt, den Kaufvertrag ausgehandelt und eine Finanzierung abgeschlossen hatten. In den ersten vier Wochen nach der Neueröffnung arbeitet der Alteigentümer dann noch im Laden mit.

Nach der Einarbeitung der Neuen müssen Alteigentümer loslassen

Ein gleitender Übergang sei durchaus sinnvoll, sagt IHK-Berater Ummenhofer – aber befristet. „Man sollte einen klaren Schlussstrich ziehen.“ Sonst könne es zu Reibereien kommen. Das hat Ummenhofer bei einem Woll- und Strickwarengeschäft erlebt, dessen Inhaberin nach der Verpachtung ihres Ladens an eine Kundin weiterhin Kurse dort anbieten wollte. Mittlerweile hat sie sich zurückgezogen.

Übernahmen innerhalb der Familie seien bei den von der IHK betreuten Fällen mittlerweile in der Minderheit, sagt Ummenhofer. Auch hier sei wichtig, dass der Senior „loslässt und akzeptiert, dass sich die Zeiten ändern“. Ein Erfolgsbeispiel in dieser Hinsicht sei die Übernahme eines Göppinger Werkzeugherstellers durch den Enkel des bisherigen Inhabers gewesen. „Mittlerweile hat er die Produktion ausgeweitet, und der Umsatz steigt.“

Das Lebenswerk erhalten

Selbst für ungewöhnliche Geschäftsideen lasse sich eine Lösung finden, betont Ummenhofer. So habe ein älterer Ingenieur auf dem jährlichen Nachfolgetag der IHK Stuttgart Fundamentsysteme aus Metall vorgestellt, die er vor Jahren entwickelt hatte und zuletzt nur noch in sehr geringem Umfang verkaufte. Der Inklusionsbetrieb Gemeinnützige Werkstätten und Wohnstätten (GWW) aus Böblingen begeisterte sich für das Produkt und darf es mit Erlaubnis des Erfinders nun herstellen. „So lebt seine Idee weiter“, sagt Ummenhofer. Weitere Veranstaltungen zum Thema Unternehmensnachfolge bietet die IHK im September an: https://www.ihk.de/stuttgart/fuer-unternehmen/nachfolge/ihk-veranstaltungen-zur-unternehmensnachfolge.

Sonderfall Arztpraxis

Ärztemangel
 Wie andere Kleinbetriebe haben auch Arztpraxen zunehmend Probleme mit der Nachfolgeregelung. Bis 2035 würden vermutlich 11 000 Hausarztstellen bundesweit unbesetzt sein, schreiben die Analysten.

Ursachen Viele Absolventen ziehen eine Facharzt-Ausbildung dem Hausarztberuf vor. Zudem entscheiden sich junge Ärztinnen und Ärzte häufiger für Teilzeitmodelle und Gemeinschaftspraxen. Das führt zu einem Konzentrationsprozess. bsa