Während der Pandemie haben sich viele Menschen zurückgezogen. Foto: imago/Liesa Johannssen

Vielen jungen Menschen sind in der Coronapandemie die Perspektiven abhandengekommen. Bei einigen hat sich daraus eine psychische Erkrankung entwickelt. Berater des Landkreises helfen Betroffenen – und deren Angehörigen.

Sie haben Angst vor dem Krieg, fühlen sich machtlos gegenüber fortschreitender Umweltzerstörung oder befürchten, im Winter frieren zu müssen: Große Sorgen um die Zukunft machen sich derzeit nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche. Dies führe zu erheblichen psychischen Belastungen in den Familien, sagt Regina Weissenstein, die Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Landkreises. In den Stützpunkten in Esslingen und Nürtingen können sich Elternteile, Kinder oder Jugendliche kostenlos beraten lassen.

Etliche Jugendliche fanden nach der Pandemie keinen Einstieg

Psychisch angeschlagen seien manche Jugendliche seit der Pandemie, sagt Stefan Bünner, Teamleiter der Beratungsstelle in Nürtingen. Den Verlust sozialer Kontakte konnten die meisten kompensieren, doch einige Jugendliche hätten keinen Einstieg mehr gefunden. Abhanden gekommen seien auch Perspektiven und Visionen, ergänzt Weissenstein: „Die Weltreise nach dem Abi fiel aus, Träume kamen gar nicht erst auf“. Vor einigen Jahren stand den Jugendlichen die Welt offen, „nun müssen sie sich fragen, ob Putin die Atombombe wirft“.

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Die niedergedrückte Stimmung kann bei manchen in Verzweiflung umschlagen. Dies zeigt sich bei den Anmeldungen zum Thema Suizidgedanken: Die gab es in der Beratungsstelle früher einmal pro Monat, inzwischen einmal pro Woche. Im Gespräch gilt es dann abzuklären, ob eine akute Gefährdung vorliegt – und im Notfall eine Krisenintervention in die Wege zu leiten. Die Beraterinnen und Berater müssen entscheiden, ob die Eltern und die Jugendarbeit ins Boot geholt werden, oder organisieren eine Notaufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Rebellion gegen die Eltern ist eine Ursache für Probleme

Die meisten Fälle sind nicht ganz so dramatisch. Oft wollen Eltern herausfinden, warum ihre Kinder sich auffällig verhalten, die Schule verweigern, Essstörungen entwickeln, aus ihren sozialen Kontakten aussteigen oder sich selbst verletzen. Sich zu ritzen – im Fachjargon: „nicht-suizidales, selbstverletzendes Verhalten“ – kommt seit Beginn der Pandemie häufiger vor. Auslöser kann das Gefühl sein, den eigenen Körper nicht mehr zu spüren. „Indem sie einen extremen Reiz setzen, spüren sich die Jugendlichen wieder“, erklärt Bünner. Doch auch Rebellion gegen die Eltern oder das Gefühl, nicht verstanden oder geliebt zu werden, sind mögliche Ursachen. Zuweilen ist Gruppendynamik am Werk: „In einer peer group kann sich so etwas schnell verbreiten“, so Weissenstein. Deutet das Ritzen indes auf eine Persönlichkeitsstörung wie das Borderline-Syndrom hin, ist weitergehende therapeutische Unterstützung nötig.

Weigert ein Kind sich, in die Schule zu gehen, kann etwa Mobbing vorliegen, weiß Bünner. „Manche haben morgens plötzlich rasenden Puls und Atemnot, und verschwinden wieder in ihrem Zimmer“. Ein Runder Tisch in der Schule kann helfen, Mobbing-Strukturen abzubauen. Zugleich bespreche man mit dem Kind, dass Atemnot und erhöhter Puls als „Flucht- oder Kampfmodus“ eigentlich sinnvolle körperliche Reaktionen seien, macht Weissenstein deutlich. Und man zeige auf, wie jeder selbst etwas gegen Panik und für mehr Mut und Energie tun könne. Dazu dient etwa ein Spielkartenset mit einfachen Körperübungen „für mehr Lebenspower“: Originell gezeichnete Figuren leiten zum Seufzen, Lächeln, sich Schütteln oder „Abschnauben“ an, auf der Rückseite werden die positiven Wirkungen auf das Nervensystem und auf die Ausschüttung von „Wohlfühl-Hormonen“ erläutert. Auch über die Atmung lässt sich die psychische Befindlichkeit verbessern – beruhigend wirkt es etwa, tief zu atmen und dabei länger aus- als einzuatmen.

Am Anfang atmeten viele im Lockdown erstmal durch

Wohltuend sind solche Übungen auch für gestresste Eltern – denn auch bei ihnen waren die Belastungen in der Pandemie enorm. Zwar hätten manche zu Beginn des Lockdowns regelrecht durchgeatmet; „es gab das Gefühl einer Entlastung vom Freizeitstress, und man nutzte die Zeit für Familienausflüge“, blickt Bünner zurück. Doch lange Phasen von Homeoffice, oft in beengten Wohnverhältnissen, in Kombination mit der Aufgabe, die Kinder beim Onlineunterricht zu coachen, forderten ihren Tribut. „Wir haben total erschöpfte Eltern erlebt, manche konnten kaum noch essen oder schlafen“, erzählt Weissenstein. Besonders getroffen haben es alleinerziehende Mütter, bei denen oft auch Armut ein Thema sei. In so einem Fall werde gemeinsam besprochen, ob zur Unterstützung die Jugendhilfe hinzugezogen wird.

Wenn Schicksalsschläge, Todesfälle oder vergangene Traumata die Ratsuchenden belasten, ist in vielen Fällen weitergehende Therapie nötig. Häufig ist dies bei Kriegsflüchtlingen der Fall. Ein immer wiederkehrendes Thema der Beratung ist auch die Trennung der Eltern. Im Idealfall kämen Eltern bereits im Vorfeld, um zu erfahren, wie sie die Trennung möglichst wenig belastend für die Kinder gestalten können. Haben sich hingegen klare Fronten gebildet, „befinden sich die Kinder in einem schweren Loyalitätskonflikt“, so Bünner. Dann ist das Ziel, zwischen den verfeindeten Partnern zu vermitteln und Lösungen zu entwickeln.

„Man muss kein Riesen-Problem haben, um zu uns zu kommen“

Für Kinder aus Trennungsfamilien wird eine Gruppe angeboten, die sich an zehn Nachmittagen trifft, um mit einer Heilpädagogin zu malen, zu basteln, zu spielen und sich auszutauschen. „Viele Kinder denken, sie seien schuld an der Trennung, und müssten etwas tun, damit die Eltern wieder zusammenkommen“, weiß Weissenstein. Deshalb sei Entlastung dringend nötig. „Man muss kein Riesen-Problem haben, um zu uns zu kommen“, betont die Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle für Familie und Jugend. Gut sei es, frühzeitig über Problemsituationen zu sprechen, um sie einordnen zu können und Lösungen zu entwickeln.