EZ-Lokalchef Johannes M. Fischer verkauft auf dem Marktplatz die Straßenzeitung „Trott-War“. Erst läuft es zäh, aber dann ändert sich plötzlich alles.
Esslingen - Thomas Schuler ist ein Experte. „Ich habe schon auf der Straße in Esslingen verkauft. Am Markt, da ist es gut. Am Eingang, wo die Dionys-Kirche steht.“ Dann beschreibt er, wie er es gemacht hat: „Auch mal den Trott-War probieren - äh, kaufen?“
Trott-War ist ein hartes Kunstwort. Es suggeriert den Krieg auf der Straße. Die Ansprache Schulers bedeutet also nichts anderes als: Auch mal Straßenkrieg probieren? Es steht für einen Verein und eine Straßenzeitung, die unter anderem in Stuttgart, Esslingen und Heidelberg verkauft wird. Der Verkauf hilft Menschen in Not, den Kopf über Wasser zu halten. Einige zappeln noch am Rand der Gesellschaft, andere sind noch ein Stück tiefer gerutscht und sind als Obdachlose komplett aus der Gemeinschaft gefallen. Mit dem Straßenverkauf verdienen sie sich ein paar Groschen. Ein Exemplar kostet 2,60 Euro, die Hälfte bleibt beim Verkäufer.
Im Schatten der Kirche
Bei der Platzwahl folge ich dem Rat Schulers. Es ist ein seltsames Gefühl, im riesigen Schatten der Stadtkirche St. Dionys zu stehen. Der Schatten endet ungefähr dort, wo die ersten Obst- und Gemüseverkäufer stehen. Mitten auf dem Markt darf ich nicht, dafür müsste ich eine besondere Genehmigung haben. So hat mich das Ordnungsamt belehrt. Grundsätzlich ist die Stadt Esslingen aber kulant: Es gibt einen Deal mit Trott-War, dass das Heft im öffentlichen Raum verkauft werden darf, ohne dass Standgebühren fällig werden.
Es sind noch nicht viele Marktbesucher unterwegs. Zeit zum Grübeln. Das ich als Straßenzeitungsverkäufer im Schatten stehe, während das Markttreiben in der Sonne stattfindet, hat was Symbolisches. Und als die ersten Passanten an mir vorbeiziehen, ohne etwas zu kaufen, frage ich mich für einen Moment: Was mache ich hier eigentlich?
Trott-War ruft um Hilfe
Es ist Ende März, die Corona-Krise trieb dem sozialen Tiefpunkt zu. Nachdem das Kontaktverbot ausgesprochen und die Geschäftsschließungen angeordnet worden waren, waren auch die Straßen mit einem Mal leer gefegt. Das Magazin Trott-War kam in Schwierigkeiten, es konnte nicht mehr verkauft werden. Der Verein verschickte einen Hilferuf, den auch die EZ-Redaktion erhielt: Der Verein sei „im Ausnahmezustand, der Zeitungsverkauf breche ein. „Wir brauchen Hilfe!“ Wenn der Vertrieb zumachen würde, müssten viele betteln gehen.
Also rief ich an und fragte, ob ich beim Verkauf helfen könne. Ein Versuch wäre es doch wert.
Wechselgeld
Um mich als Trott-War-Verkäufer kenntlich zu machen, lege ich eine rote Schürze um. An die Schürze klemme ich einen Praktikantenausweis. Den fertigte der Verein für mich aus, falls die Polizei vorbei kommen sollte und Fragen stellen würde. Außerdem habe ich einen kleinen Pappkarton mit Geldschlitz dabei, einen alten Klappstuhl und zwei größere Kieselsteine.
Der Verkauf läuft kontaktlos: Die Magazine (beschwert mit einem Stein) und den Pappkarton (beschwert mit dem anderen Stein) stelle ich auf den Klappstuhl. Mich selbst in gebührenden Abstand dazu. Die Käufer können das abgezählte Geld in den Karton geben, Wechselgeld gibt es nicht. Schnell stellt sich heraus, dass das keine Hürden ist: Fast alle Käufer runden schon von sich aus auf. Später werde ich viele Fünf-Euro-Scheine im Karton finden. Allerdings ist fehlendes Wechselgeld auch eine wiederkehrende Metapher für „NeinDanke“: Ich höre diesen Satz in den zwei Stunden häufiger. Es ist ein bisschen wie mit den Zahnschmerzen, die gerne mal herhalten müssen, wenn einem ein Termin nicht gefällt.
Die Zwei-Schritte-Methode
Von Beginn an entschließe ich mich, die potenziellen Kunden direkt anzusprechen oder wenigstens Augenkontakt zu suchen. Aber es fühlt sich an, als hätte ich saures Bier zu verkaufen. Die meisten Menschen bleiben freundlich. „Nein Danke“, „leider kein Wechselgeld“, „später“, „habe ich schon“. Nur wenige schauen bewusst weg oder ignorieren mich. Und dann der erste Kunde, der Zweite, der Dritte. Immerhin: Ich werde nicht komplett erfolglos das Feld räumen müssen.
Nach etwa zwanzig Minuten ändere ich die Methode. Wer den Markt betritt, den grüße ich nur freundlich. Manche mit „Guten Morgen“, andere mit „Hallo“. Fast alle grüßen zurück. Wer den Markt verlässt, den spreche ich direkt an: „Ach, da sind Sie ja wieder! Kennen Sie Trott-War? Sie werden schon am frühen Morgen Gutes tun! Das Geld fließt zu hundert Prozent an den Verein. Schauen Sie, die Titelgeschichte, da äußerst sich die Landtagspräsidentin!“ Und plötzlich läuft es. Alle paar Minuten geht ein Heft weg, mit einigen komme ich ins Gespräch. Am Ende bin ich euphorisch: Es ist weit mehr im Karton als ich zu hoffen wagte.
Fazit
Es war ein schöner Job, aber auch nur, weil ich aus einem Luxus heraus verkaufte. Die Aktion konnte ich tags zuvor in der Zeitung ankündigen, sodass viele EZ-Leser vorbeikamen. Es waren nur zwei Stunden – die Zeit verging schnell. Es kamen Kollegen, Freunde und Bekannte vorbei, unter anderem Werner Bolzhauser von „Kultur am Rande“, einem Verein, der sich ebenfalls für Obdachlose einsetzt. Er sieht, dass ich noch nicht alle Hefte verkauft habe. Und ich kann nicht länger bleiben, muss in die Redaktion. Also bindet er sich die rote Schürze um und löst mich einfach ab. Später bekomme ich eine Textnachricht: „Um 12:20 Uhr waren alle Exemplare verkauft. War eine gute Aktion.“