Norbert Lammert fordert im Interview mit unserer Zeitung weitere europäische Integrationsschritte: „Der Status quo reicht nicht aus.“ Foto: Lipicom/ /Michael Ebner

Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht über die politischen Folgen der Pandemie für das Parteiensystem, den Parlamentarismus und die europäische Integration.

Berlin - Norbert Lammert (CDU) hat als Bundestagspräsident die Rechte des Parlaments verteidigt und für eine offene demokratische Debatte geworben. Inzwischen ist er Vorsitzender der parteinahen Adenauer-Stiftung und beobachtet die politischen Entwicklungen der Corona-Krise mit etwas Abstand.

Herr Lammert, die erste Corona-Welle in Deutschland liegt hinter uns. Hatten Sie außerhalb der Kurzatmigkeit des Krisenmanagements im Regierungs- und Parlamentsbetrieb schon Zeit darüber nachzudenken, was das mit uns gemacht hat?

Wir sehen – das hat auch das Krisenbarometer unserer Stiftung bestätigt – ein bemerkenswertes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Institutionen. Das hat aber auch eine Kehrseite: Die Krise zeigt, dass wir mehr als zuvor fast reflexhaft nach dem Staat rufen. Interessanterweise sind parallel auch die Erwartungen an eine Zusammenarbeit in Europa enorm gestiegen.

Das Zutrauen geht einher mit etwas, das Minister Jens Spahn als „Corona-Patriotismus“ bezeichnet. Was halten Sie vom Stolz, bisher ganz gut durch die Krise gekommen zu sein?

Die Zahlen geben das her – einschließlich des gelegentlich zu erkennenden Übermutes, dass wir Corona schon hinter uns gelassen hätten. Es ist beachtlich, dass Deutschland mit seinen komplizierten Entscheidungsprozessen im Vergleich so gut dasteht. Wir haben die Gewaltenteilung und ein föderales System, in dem die Bundesländer die Federführung bei der Pandemiebekämpfung innehaben. Es hat besser funktioniert als das zentral gesteuerte Krisenmanagement in manchen unserer Nachbarländer.

Der oft geschmähte Föderalismus hat sich also rehabilitiert?

Für abschließende Bewertungen ist es noch zu früh, sie werden erst mit größerem zeitlichen Abstand möglich sein. Überhaupt bin ich erstaunt darüber, wie manche Beobachter jetzt schon die große Zäsur ausmachen, nach der nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Ich bin mir da nicht so sicher: Mir scheint es eher so zu sein, dass die Corona-Krise noch deutlicher Entwicklungen und Defizite offenlegt, die erkennbar vorher eingesetzt haben beziehungsweise schon da waren.

Woran machen Sie das fest?

Das Homeoffice gab es schon vor Corona, in der Krise ist es aber kurzfristig massenhaft aktiviert worden, wie das niemand zuvor für möglich gehalten hat. Die gewonnenen Erfahrungen werden auch nach der Pandemie genutzt werden. Zugleich führt uns die Krise schmerzhaft vor Augen, dass wir bei der digitalen Bildung noch lange nicht da sind, wo wir sein müssten.

Ihre CDU, die dieses Jahr 75 wird, gehört zu den Krisengewinnern. Nach den Thüringer Ereignissen zu Beginn des Jubiläumsjahres schien ein Fall ins Bodenlose möglich, nun steht die Partei in Umfragen bei 40 Prozent. Wie nachhaltig ist die Erholung?

Die Menschen scharen sich in unsicheren Zeiten hinter Institutionen und Personen, in diesem Fall hinter der Bundesregierung und der Kanzlerin. Dass dieses Phänomen derzeit der Union zugutekommt, ist schön, aber nur eine Momentaufnahme und kein Indiz für das Ergebnis der nächsten Wahl – erst recht, weil die Person, auf die sich der Vertrauensbeweis in erster Linie richtet, nicht mehr antritt.

Die Schwindsucht der Volksparteien ist demnach nur gelindert, aber nicht geheilt?

Die Abgesänge waren schon immer voreilig. Seit langem nimmt die Bindung an Parteien ab – so wie die zur Kirche, zu Gewerkschaften oder Sportvereinen auch. Individualisierung und Segmentierung treffen das Geschäftsmodell der Volksparteien aber besonders hart, da es eben nicht auf der Vertretung von Einzelinteressen, sondern deren Integration beruht. Ich kann nicht erkennen, dass das überflüssig geworden sein sollte, im Gegenteil. Es wird für Parteien nur immer schwerer, sich mit der Kompromisssuche attraktiv zu präsentieren. Im Augenblick wird diese Entwicklung vor allem auf dem Rücken der SPD ausgetragen. Sie kann sich wieder fangen oder von den Grünen als linke Volkspartei abgelöst werden. Das wäre die erste relevante Veränderung des Parteiensystems seit mehr als 30 Jahren.

Den Einzug der AfD in den Bundestag 2017 zählen Sie nicht dazu?

Ein Einschnitt war das zweifellos, aber ich hoffe darauf, dass dies anders als beim Bundestagseinzug der Grünen eine vorübergehende Erscheinung bleibt. Man hätte erwarten können, dass die Partei von dieser Phase großer Unsicherheit profitiert. Dass das Gegenteil der Fall war, ist ein erfreulicher, aber keinesfalls dauerhaft garantierter Befund.

Was passiert, falls in den nächsten Monaten aus Kurzarbeit Arbeitslosigkeit wird und das Krisenmanagement der Regierung nicht mehr auf fast ungeteilte Zustimmung stößt.

Es wird die große Aufgabe nicht nur der Politik sein, im Falle einer tiefen Rezession einem Wiedererstarken der populistischen Kräfte entgegenzuwirken.

Die Kritik, die es gibt, bezieht sich vor allem auf die Einschränkung von Grundrechten und die Notstandskompetenzen, die die Legislative der Exekutive eingeräumt hat. Wie bewertet der ehemalige Bundestagspräsident den Zustand von Demokratie und Parlamentarismus?

Es liegt in der Natur der Dinge, dass Regierungen im Katastrophenfall handeln müssen. Nun kann man trefflich darüber streiten, ob der Deutsche Bundestag oder die Landtage Handlungsvollmachten stärker hätten befristen oder inhaltlich einschränken sollen. Einen Königsweg sehe ich dafür nicht. Die Sorge, dass die Regierung Parlamentsrechte aushebeln will, teile ich ohnehin nicht. Selbst wenn ein Überrumpelungsversuch gelungen wäre, könnte das deutsche Parlament Kompetenzen jederzeit wieder an sich ziehen. Mir ist um den Parlamentarismus auch deshalb nicht bang, weil unsere Gerichte ebenfalls nicht aus Ehrfurcht vor Regierungsentscheidungen erstarrt sind.

Inwiefern stellt der von Berlin und Paris vorgeschlagene Wiederaufbaufonds, über den beim EU-Gipfel verhandelt wird, eine Wende in der deutschen Europapolitik dar? Gerade Ihre CDU hat sich zwar stets als Europapartei definiert, stand aber gerade bei finanziellen Integrationsschritten zuletzt häufig auf der Bremse.

Der Vorschlag ist unbedingt zu begrüßen, weil der argumentative Stellungskrieg im Vorfeld unproduktiv war und nichts zur Lösung der Krise beigetragen hat. Insofern stimmt es, dass die Bremse nun gelöst wurde – allerdings muss, um in Ihrem Bild zu bleiben, auch gelenkt und ein Ziel ausgegeben werden. Ich hätte mir deshalb gewünscht, dass erst definiert worden wäre, wozu wie viel Geld gebraucht wird, statt sich auf das Mischungsverhältnis von Zuschüssen und Krediten sowie die Verteilung zu konzentrieren. Das kann aber nicht Grundlage für die Größe des Programms sein.

Sie sprechen vom Fahren ohne Ziel. Muss jenseits des akuten Krisenmanagements wieder mehr darüber gesprochen werden, wohin es eigentlich mit Europa gehen soll?

Mit Blick auf die globale Kräfteverteilung kann gar kein Zweifel bestehen, dass die Zusammenarbeit in Europa viel enger werden muss. Zweifel sind aber angebracht bei der Beurteilung, ob die EU-Staaten sich in ihrer derzeitigen mentalen Verfassung auf eine gemeinsame Zielvorstellung verständigen könnten. Wenn erstmals ein Mitgliedsland austritt, weil es nicht einmal die vage Zielvorgabe einer „ever closer union“ unterstützt, sehen wir doch, dass längst nicht alle eine engere Kooperation wünschen. Historisch betrachtet, hat es immer Krisen für den nächsten Integrationsschritt gebraucht – es würde mich nicht überraschen, wenn es diesmal wieder so wäre.

Wäre es klug oder abschreckend, wenn die Bundesregierung sich dem Ziel Vereinigter Staaten von Europa verschriebe, um einmal die radikalste Variante zu nehmen?

Zielvorgaben müssen realistisch sein. Die Bundesregierung hat zuletzt immerhin wieder deutlich gemacht, dass sie auch zu Vertragsänderungen bereit ist. Im Klartext: Für Deutschland ist der jetzige europäische Integrationszustand nicht das letzte Wort. Für mehr Europa braucht es aber nicht nur Mehrheiten, sondern Konsens. Statt rhetorischer Tapferkeitswettbewerbe bedarf es vielmehr großen Fingerspitzengefühls, um aus einer Handlungsnotwendigkeit, wie wir sie jetzt wieder sehen, eine allgemeine Einsicht herzustellen, dass der Status quo nicht ausreicht.