Würziger Duft: Myriam Veit zündet eine Mischung mit Salbei und Nelken an. Foto: Roberto Bulgrin

Esoterik im Märchenzelt: Ein Workshop auf dem Esslinger Weihnachtsmarkt handelt vom mittelalterlichen Brauch der Raunächte. Dabei geht es um Klarheit, Selbsthilfe – und wohlriechende Räuchermischungen.

Das beheizte Märchenzelt in der Heugasse ist am kalten Sonntagabend eine besinnliche Oase im Trubel des Esslinger Mittelalter- und Weihnachtsmarktes. Orientalisch gemusterte Teppiche, Kerzenflammen und ätherische Öle erzeugen eine ebenso esoterische wie gemütliche Atmosphäre. In der Mitte des rot beleuchteten Raums sitzt Myriam Veit vor einem Tisch mit Ratgebern und Räucherutensilien. Die 54-Jährige leitet einen Workshop zum Thema Raunächte.

Dabei handelt es sich um ein mittelalterliches Ritual. Hinter dem Brauch steht der Gedanke, zwischen den Jahren Altes loszuwerden, um Platz für Neues zu schaffen. Meditative Räucherungen sollen bezwecken, dass sich Unliebsames im eigenen Leben in Luft auflöst. Als Zeitraum gelten zwölf oder dreizehn Nächte von Weihnachten bis zum Dreikönigstag. Die Herkunft des Namens – manchmal auch: Rauhnächte – ist umstritten. Er könnte vom Rauch herrühren, oder aber von rûch, dem mittelhochdeutschen Wort für haarig – schließlich sollen um den Jahreswechsel mit Fell bekleidete Dämonen ihr Unwesen treiben.

Raunächte sind eine Gelegenheit um zur Ruhe zu kommen

Fest steht für Myriam Veit jedenfalls: „Die Raunächte haben großes Potenzial.“ Sie seien eine gute Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen und zurückzublicken. Die Autorin und Yoga-Lehrerin, die sich intensiv mit Heilpflanzen befasst, sagt: „Die Räder – auch die im Kopf – sollen in dieser Zeit stillstehen.“ Ein wichtiges Element ist dabei in Veits Auslegung die Eigenverantwortung. Bei vielen Menschen überwiege im Alltag die Unzufriedenheit. Der Brauch könne helfen, einige der Ursachen auf einer sehr individuellen Ebene zu beheben. „Das Gute und Schöne fällt uns nicht einfach zu, wir müssen uns auch darum kümmern“, sagt Veit.

Der Brauch der Raunächte soll helfen, Stress abzubauen. Foto: Roberto Bulgrin

Raunächte – Zettel verbrennen als Ritual

Konkret heißt das bei den Raunächten, sich zunächst zwölf Wünsche oder Vorhaben aufzuschreiben und blind durchzumischen. Anschließend wird in elf der Nächte jeweils ein Zettel verbrannt. Dem Wunsch, der am Ende noch übrig ist, solle man sich mit voller Kraft widmen, empfiehlt Veit. Außerdem haben die Nächte verschiedene Schwerpunkte. So geht es zum Beispiel vom 24. auf den 25. Dezember um die Liebe. Veit sagt dazu: „In dieser Nacht überlegt man sich genau: Gibt es etwas, was ich bedingungslos liebe?“ Ein anderes Mal sei das Ziel, „das eigene Umfeld zu klären“, erzählt Veit. Das könne bedeuten, offene Fragen in Beziehungen zu adressieren, zum Beispiel in Form eines Briefs.

All das habe nicht nur eine mystische Seite. „Man kann dabei auch gut einen Businessplan schreiben“, sagt Veit und fügt hinzu: „In den Raunächten strukturiert man das kommende Jahr. Das Ritual ist nichts anderes, als sich zu fragen: Wo bin ich und wo will ich hin?“ Zu den unterschiedlichen Themen nennt Veit passende Rauchmischungen. Als Probe zündet die 54-Jährige eine Sorte mit Salbei, Beifuß und Nelken an – die Schwaden und der würzige Duft verteilen sich im Zelt. Mehr davon gibt es am Marktstand von Veits Naturkosmetik-Unternehmen Naowa auf dem Rathausplatz.

Zum Schluss der Räucherstunde beruhigt die Esoterik-Expertin die Teilnehmenden und sagt: „Das war jetzt sehr komplex, ihr müsst aber nicht alles davon machen.“ Stattdessen könne man sich herauspicken, was einem hilfreich erscheine. Bei Sarah Keck scheint die Botschaft angekommen zu sein. Die 29-jährige Yoga-Lehrerin sagt: „Ich denke schon seit Längerem über das Ritual nach und will es in diesem Jahr – zumindest an Silvester – tatsächlich umsetzen.“