Seit 2017 stand die Linde allein unter lauter Kastanienbäumen auf dem Esslinger Marktplatz. In einer aufwendigen Aktion wurde sie aus ihrem Erdbett herausgehoben.
Der Blick ist ungewohnt. Ungewohnt, aber schön. Denn vom Standpunkt neben der Stadtkirche St. Dionys direkt vor den Gebäuden von Kessler Sekt sind quer über den Esslinger Marktplatz die Skyline der alten Fachwerkhäuser mit dem Kielmeyerhaus, die Frauenkirche und die Weinberge im Hintergrund zu sehen. Dieser Blick ist nun frei. Denn etwas fehlt – die Linde. Der Baum wurde im Zuge der Neugestaltung des Marktplatzes im Vorfeld des Stadtjubiläums 2027 in einer aufwendigen Aktion verpflanzt.
Die fünf hydraulischen Spaten graben sich tief ins Erdreich hinein. Mit ihren eisernen Zähnen beißen sie sich rund um die Linde tief im Boden fest. Fast scheint es, als wären die Schmerzensschreie des Baumes zu hören, der samt Wurzelwerk langsam fest in den Klammergriff der Spaten gepresst wird.
Doch Mitleid mit dem Baum wäre fehl am Platze. Die Marktplatz-Linde werde nicht leiden müssen, beruhigt Florian Pietsch vom städtischen Grünflächenamt, der sich die Verpflanzungsaktion mit anschaut. Die ausführende Spezialfirma aus dem mittelfränkischen Heideck im Landkreis Roth sei ein professioneller Großbaumverpflanzer, der sein Handwerk beherrsche. Erfahrung kommt noch hinzu: Laut Homepage hat die Firma schon weit mehr als 1,8 Millionen Bäume in ganz Europa verpflanzt.
Die Linde muss weichen, um die Sichtachsen frei zu machen
Nun ist die Esslinger Marktplatz-Linde an der Reihe. Immer tiefer und tiefer dringen die Spaten in die Erde vor. Dann erfassen sie die Linde samt Wurzelwerk und ziehen sie aus ihrem angestammten Bett. Seit 2017, rechnet Florian Pietsch vor, habe der Baum auf dem Esslinger Marktplatz gestanden. Vor acht Jahren war sie im Alter von gut 25 Jahren dort eingepflanzt worden – der Baum ist also um die 33 Jahre alt.
Jetzt aber muss er weichen. Der Marktplatz soll zum 1250-jährigen Stadtjubiläum 2027 auf Vordermann gebracht und teilweise neu konzipiert werden, erklärt Bauleiter Norbert Seidel vom städtischen Tiefbauamt. Die Planung sehe vor, dass die Sichtachse von der Stadtkirche St. Dionys her frei gemacht werde, um eben die schöne Sicht auf die Fachwerk-Silhouette und die malerische Weinberg-Umgebung frei zu machen.
Die großen Spaten ziehen den Baum aus dem Erdreich. Seine neue Heimat wartet schon auf ihn, sagt Florian Pietsch. In der Maille in der Nähe des Cafés Uferlos werde die Linde eingepflanzt. Dort würde sie gärtnerisch aufgehübscht und fachgerecht zugeschnitten. Am neuen Standort werde sie sich wohlfühlen.
Ähnliche Aktionen hätten in der Vergangenheit alle geklappt. Anfang der 2000er Jahre etwa hätte im Zuge des Neubaus von Möbel Rieger bei Sirnau eine ganze Eschenallee weichen müssen. Die Bäume seien an verschiedenen Standorten in Esslingen eingesetzt worden – und allen ginge es gut. Die Verpflanzung der Linde kostet seinen Worten zu Folge etwa 6000 Euro. Kauf und Einsetzen eines neuen Baumes hätten mit mindestens 10 000 Euro zu Buche geschlagen. Nicht nur vom ökologischen, auch vom betriebswirtschaftlichen Aspekt her sei die Umpflanzaktion positiv zu bewerten.
Kommt ein Zürgelbaum aus dem Mittelmeerraum nach Esslingen?
Die Linde wird mit dem Spezialfahrzeug in Richtung Maille abtransportiert. Als sie vor acht Jahren auf den Marktplatz kam, erinnert sich Florian Pietsch, hatte sie einen Stammumfang von gut 32 Zentimetern. Aktuell sind es mehr als 45 Zentimeter. Das Grünflächenamt müsse sich also gut um seinen Zögling gekümmert haben, meint er mit einem Schmunzeln. Die anderen botanischen „Marktplatz-Mitbewohner“ der Linde, allesamt Kastanien, bleiben stehen.
Aber auf Höhe der Weißbierstube und links vom Löwenbrunnen werden zwei neue Bäume gepflanzt, so Florian Pietsch. Um welche Sorte es sich handeln wird, stehe noch aus. Eine gelb blühende Kastanie wäre denkbar, da sie dank ihrer Robustheit dem Klimawandel eher trotzen könne. Möglich wären seinen Worten zu Folge aber auch eine Ulme oder ein Zürgelbaum aus dem Mittelmeerraum, der an hohe Temperaturen gewöhnt ist.
Auf dem Esslinger Marktplatz wird eine „Brunnenstube“ gebaut
Das Fahrzeug mit der Linde biegt vom Marktplatz in Richtung Abt-Fulrad-Straße ab und gerät langsam außer Sichtweite. Auf dem Marktplatz gehen die Bauarbeiten weiter. An einem großen, ausgehobenen Loch schaut Norbert Seidel nach dem Rechten. In der frei gegrabenen Fläche, sagt der Mann vom Tiefbauamt, werde die „Brunnenstube“ entstehen. Mit technischem Gerät für die auf dem neu gestalteten Marktplatz geplante Fontänenanlage und einem Bewässerungerssystem für die noch verbleibenden Bäume. Noch in diesem Jahr, ergänzt er, sollen alle Arbeiten in der Tiefe erledigt werden, damit die archäologischen Untersuchungen beginnen können.
Dort wo die Linde bisher gestanden hatte, klafft nun ein Loch im Erdreich. Doch der Blick über den Marktplatz ist jetzt schön. Ungewohnt, aber schön.
Esslingen putzt sich heraus
Stadtjubiläum
Esslingen wurde 777 erstmals urkundlich erwähnt und feiert 2027 seinen 1250. Geburtstag. Geplant ist kein Jubiläumswochenende – gefeiert werden soll das ganze Jahr über. Bürger können sich an der Programmgestaltung beteiligen und für die Umsetzung ihrer Projektideen auch Fördergelder erhalten. Vorschläge können eingereicht werden unter: www.esslingen.de/besondersseit777/mitmachen.
Marktplatz
Von Januar 2026 bis Frühjahr 2027 wird nach dem Ende der Arbeiten im Untergrund der Esslinger Marktplatz neu gestaltet. Geplant sind eine moderne Multifunktionsfläche, Räume für Außengastronomie, ein Fontänenfeld, ein heller Pflasterbelag, schattige Sitzgelegenheiten und mehr Radstellplätze.