Die Lesart 2022 kann kommen: Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs (links) und Programm-Leiterin Dominique Caina sind gerüstet. Foto: Roberto Bulgrin

Für Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs ist es die letzte Lesart vor ihrem Ruhestand, für Dominique Caina ist es die erste, bei der sie das Programm für Erwachsene organisiert. Im Gespräch mit unserer Zeitung blicken die beiden auf die Esslinger Literaturtage 2022.

Die Lesart hat in drei Jahrzehnten viele Freunde gewonnen. Sie alle schätzen ein qualitativ hochwertiges, inhaltlich anspruchsvolles und mit vertrauten Gesichtern und neuen Entdeckungen gespicktes Programm. Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs und Dominique Caina, Programm-Leiterin für Erwachsene, verraten, wie aus vielen guten Büchern ein stimmiges Programm wird.

Die Lesart genießt einen unverwechselbaren Ruf. Wie würden Sie den Markenkern des Festivals auf den Punkt bringen?

Fuchs: Die hohe literarische Qualität steht über allem. Das Publikum schätzt den Mix aus etablierten Autorinnen und Autoren und interessanten Entdeckungen. Und wir freuen uns auf Gäste, die seit vielen Jahren nach Esslingen kommen und deren Karrieren die Lesart seit vielen Jahren begleitet. Wenn diesmal Rüdiger Safranski, Rafik Schami, Heinrich Steinfest, Alex Capus oder Robert Menasse nach Esslingen kommen, ist das wie ein Wiedersehen mit guten Freunden.

Frau Caina, Sie zeichnen erstmals für die Programm-Leitung verantwortlich. Haben Sie schon eigene Akzente gesetzt?

Caina: Ich hoffe, dass man schon etwas von meiner Handschrift erkennt. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass die Literaturtage etwas interkultureller werden und mehr Diversität zeigen, um neue Zielgruppen anzusprechen. Und ich würde gerne interdisziplinärer werden. Die Literatur kann Geschichten nicht nur durch Lesen vermitteln, sondern auch in Verbindung mit anderen Kunstsparten. Besonders freue ich mich über die stärkere Verzahnung der Programme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Sie können sich aus einer Fülle neuer Titel bedienen. Wie lässt sich daraus ein stimmiges Programm komponieren?

Fuchs: Wir haben die Neuerscheinungen der wichtigen Verlage immer im Blick. Manche Autoren kennen wir schon länger, auch ein Blick auf unsere Entleihzahlen kann Hinweise geben. Vor allem aber lesen wir ganz, ganz viel und diskutieren intensiv über die Titel, wobei wir uns gar nicht immer einig sein müssen. Und man darf auch mal etwas ausprobieren. Wichtig ist, dass nicht nur der einzelne Autor oder die Autorin passt, sondern dass das Programm insgesamt stimmt.

Caina: Die Kunst ist, zwischen ganz viel Silber das Gold zu entdecken. Ich war bei vielen Veranstaltungen, um mir jüngere Autorinnen und Autoren anzuhören. So habe ich zum Beispiel Marie Gamillscheg und Yade Yasemin Önder entdeckt, die mich verzaubert haben. Ich hätte ihnen noch stundenlang zuhören können. Ihre Bücher habe ich erst danach zur Hand genommen und festgestellt, dass sie sich ebenso gut lesen.

Wir leben in besonderen Zeiten. Spürt man am Buchmarkt, dass Autorinnen und Autoren darauf bereits reagieren?

Fuchs: Themen wie Klimawandel oder gesellschaftliche Verwerfungen, die schon länger schwelen, finden natürlich ihren literarischen Niederschlag. Bei aktuellen Entwicklungen wie dem Ukrainekrieg ist es dafür aber noch zu früh. Wir haben gezielt russische Autorinnen und Autoren angeschaut und sind zum Beispiel auf Katerina Poladjan aufmerksam geworden. Ihr Roman „Zukunftsmusik“ gibt interessante Einblicke in russische Verhältnisse und Befindlichkeiten, die von zeitloser Aktualität sind.

Caina: Man spürt, dass manche Verlage gezielt ukrainische Autorinnen und Autoren in den Fokus rücken. Für eine Einladung zur Lesart genügt es aber nicht, nur mit rascher Hand ein aktuelles Thema zu bearbeiten. Die Qualität muss auf jeden Fall stimmen.

Der gesellschaftspolitische Diskurs ist typisch für die Lesart. Wird dieser Aspekt immer wichtiger?

Fuchs: Er wird immer eine wesentliche Rolle spielen. Wir freuen uns auf Nora Bossong, die in ihrem Buch „Die Geschmeidigen“ einen beeindruckenden Zukunftsentwurf für unsere Demokratie entwickelt. Sie schaut sich an, wie die Politikergeneration der 40-Jährigen mit der Macht umgeht und wie sie versucht, Probleme zu bewältigen. Und sie fragt, ob eine Generation, die sich sehr kompromissbereit zeigt, den Herausforderungen gerecht werden kann. Oder denken Sie an Nick Reimers und Toralf Stauds Buch „Deutschland 2050“. Die Klimadebatte wird oft sehr abstrakt geführt. Das könnte dazu verführen, das Problem wegzuschieben. Die beiden Autoren zeigen ganz konkret, wie der Klimawandel unser Leben verändern wird.

Caina: Der gesellschaftspolitische Dialog wird auch fiktional geführt. Autoren wie Robert Menasse und Theresia Enzensberger haben sehr politische Bücher geschrieben.

Mit Volker Kutscher kommt einer der gefragtesten Krimiautoren zur Lesart ...

Fuchs: Seine Romane begeistern mich, und die Fernsehserie „Babylon Berlin“, zu denen sie die Vorlage geliefert haben, hat mich beeindruckt. Dass eine deutsche Serie internationale Anerkennung findet, ist nicht selbstverständlich. Kutschers Krimis spielen in den 20er-Jahren – einer Zeit, die uns auch mit Blick auf unsere Gegenwart unheimlich viel zu sagen hat. Manchmal gruselt es mich, welche Parallelen sich da auftun. Es ist wichtig, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Und wenn das so anschaulich und unterhaltsam wie bei Kutscher gelingt, fühlt man sich gut unterhalten und erfährt sehr viel.

Frau Fuchs, für Sie ist es die letzte Lesart vor dem Ruhestand. Gehen Sie mit besonderen Gefühlen in das Festival?

Fuchs: Jede Lesart war eine besondere für mich, aber diesmal schwingt auch ein Gefühl des Abschiednehmens mit. Und der Dankbarkeit: Die Lesart hat mir über die Jahre die aktuelle deutsche Literatur in einer Breite und Anschaulichkeit nahegebracht, wie ich sie sonst nie für mich entdeckt hätte. Ich durfte viele interessante Menschen kennenlernen und einzigartige Momente erleben. Unvergessen ist der Abend mit Ralph Giordano. Wenn ich daran denke, wie ihm das Publikum minutenlang stehend applaudiert hat, bekomme ich immer noch Gänsehaut. Und ich habe mir vorgenommen, wieder jeden Abend zu genießen – diesmal vielleicht sogar noch etwas mehr.