Vor dem Bürgerentscheid am 8. März plant die Verwaltung eine „dialogische Bürgerbeteiligung“. Der Sozialwissenschaftler Edgar Wunder blickt kritisch auf diese Pläne.
Die Esslingerinnen und Esslinger sollen am 8. März über den künftigen Standort ihrer Stadtbücherei entscheiden. Nun überrascht die Stadtverwaltung mit dem Vorschlag, dem Bürgerentscheid eine „dialogische Bürgerbeteiligung“ vorzuschalten, auf die der Gemeinderat vor seiner umstrittenen Entscheidung für einen Umzug ins Kögel-Haus verzichtet hatte. Edgar Wunder hat als Landesvorsitzender des Vereins „Mehr Demokratie“ schon viele Bürgerbegehren und -entscheide im Land begleitet. Im Gespräch mit unserer Zeitung gibt er eine Einschätzung der städtischen Pläne.
Herr Wunder, würden Sie den Esslingern zu einer dialogischen Bürgerbeteiligung raten?
Wunder: Den Begriff „dialogische Bürgerbeteiligung“ sollte man kritisch hinterfragen. Unter „Bürgerbeteiligung“ wird unter Experten alles verstanden, was unverbindlich ist, also weder irgendwie rechtlich vorgeschrieben ist, noch zu irgendeiner verbindlichen Entscheidung führt. Bei einem verbindlichen Bürgerentscheid ist die ganze Stadt über mehrere Wochen hinweg voll von Dialogen zwischen Menschen quer durch die gesamte Bevölkerung, wie die zur Abstimmung stehende Sachfrage zu beurteilen ist. Mehr Dialog geht gar nicht. Im Unterschied dazu findet keineswegs bei allen Verfahren, die als „Bürgerbeteiligung“ bezeichnet werden, ein wirklicher Dialog statt – auch bei dem, was in Esslingen vielleicht stattfindet, wäre der Dialog nur eingeschränkt oder hinter verschlossenen Türen.
Wie bezeichnen Sie das, was in Esslingen geplant ist?
Ich verwende lieber den Begriff „unverbindliche Bürgerbeteiligung“ und würde auch nicht von „Bürgerrat“ oder „Bürgerforum“ sprechen. Den Begriff Zufallsbürger-Ausschuss halte ich für viel treffender. Das ist ein geschlossener, nicht-öffentlicher Ort, wo gerade nicht eine freie Teilnahme- oder Äußerungsmöglichkeit besteht. Ganz irreführend finde ich den Begriff „Bürgerforum“, weil „Forum“ üblicherweise für einen öffentlichen Ort steht, zu dem jeder kommen und teilnehmen kann. Das ist hier nicht der Fall.
Im Vorfeld der Gemeinderatsentscheidung hat man auf eine Bürgerbeteiligung verzichtet. Ist ein solches Verfahren sinnvoll und hilfreich, wenn ein Bürgerentscheid schon beschlossen ist?
Man kann sich schon fragen, ob es sinnvoll ist, unmittelbar vor einem verbindlichen Bürgerentscheid eine unverbindliche Bürgerbeteiligung durchzuführen, die darin besteht, dass für 45 000 Euro ein kurzzeitig tagender Zufallsbürger-Ausschuss gebildet wird, der unverbindlich über dasselbe Thema diskutiert, über das wenig später beim Bürgerentscheid verbindlich entschieden wird.
Kann ein Zufallsbürger-Ausschuss, wie Sie ihn nennen, mit 50 per Los ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern dasselbe Gewicht haben wie ein Bürgerentscheid, bei dem mutmaßlich Zehntausende abstimmen dürften?
Rechtlich hat er gar kein Gewicht, allein der Bürgerentscheid entscheidet. Eine zentrale Frage ist: Wer ist der Adressat der Diskussionsergebnisse eines solchen Zufallsbürger-Ausschusses? Der Stadtrat ist es in der vorliegenden Konstellation sicher nicht, denn der hat seine Position ja schon festgelegt, und die Entscheidungskompetenz ist durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid an die Bürgerschaft übertragen. Deshalb ist der einzig denkbare sinnvolle Adressat in einem solchen Fall die Bürgerschaft selbst in ihrer gesamten Breite. Dann ist die Frage: Was konkret hat die gesamte Bürgerschaft Esslingens davon, wenn kurzfristig ein solcher Zufallsbürger-Ausschuss gebildet wird, der für mehrere Tage zusammenkommt, um sich zum Bürgerentscheid zu äußern?
Gibt es für ein solches Vorgehen anderswo im Land bereits Beispiele?
Es gibt nur wenige Fälle, in denen unmittelbar vor einem Bürgerentscheid ein Zufallsbürger-Ausschuss eingesetzt wurde. Im Juli war das in Oberkirch der Fall. Die Auswirkungen evaluiere ich gerade im Rahmen von ausführlichen Befragungen der Beteiligten. Die vorläufigen Ergebnisse sind ernüchternd: In Oberkirch hatte der Zufallsbürger-Ausschuss nach Einschätzung fast aller Befragten keine wesentlichen Auswirkungen auf den Bürgerentscheid – weder hinsichtlich seines Ergebnisses noch der Diskussionskultur davor oder danach.
Was würden Sie für Esslingen raten?
Eine mögliche Alternative wäre, einen Zufallsbürger-Ausschuss nach dem Bürgerentscheid zusammentreten zu lassen. Denn egal wie der Bürgerentscheid ausfällt: Danach stellt sich die Frage, wie das im Bürgerentscheid Beschlossene schnell, effizient, kostengünstig und bürgerfreundlich umgesetzt werden soll. Präzise Vorschläge zu erarbeiten, wäre auch eine denkbare Aufgabe für einen solchen Ausschuss – vielleicht eine sinnvollere als eine unverbindliche Meinungsäußerung, die durch den verbindlichen Bürgerentscheid ersetzt werden kann.
Birgt ein vorgeschalteter Zufallsbürger-Ausschuss das Risiko einer einseitigen Beeinflussung des Bürgerentscheids?
Man kann sagen, dass das in einigen Fällen, das Motiv war, warum ein Zufallsbürger-Ausschuss einberufen wurde. Nach dem Motto: „Wir wollen aus der Defensive herauskommen, in die wir durch das Bürgerbegehren geraten sind, und wir suchen ein Instrument, mit dem wir das Ergebnis des Bürgerentscheids beeinflussen können.“ Ob das funktioniert hat, ist fraglich, bestenfalls teils-teils. Es gibt weitaus kostengünstigere Möglichkeiten, um beim Bürgerentscheid Bürgerinnen und Bürger argumentativ von den eigenen Positionen zu überzeugen.
Wie lässt sich eine faire und unparteiische Auswahl der am Zufallsbürger-Ausschuss Beteiligten gewährleisten?
Das Problem ist nicht der Zufallsprozess, sondern dass sich nur ganz wenige Bürgerinnen und Bürger dafür einige Tage Zeit nehmen, sodass am Ende doch wieder vorwiegend jene dabei sind, die ohnehin hochengagiert sind. In Oberkirch wurden 1400 Menschen schriftlich gebeten, sich dazu bereit zu erklären. Nur 60 davon meldeten sich, und von diesen 60 wurden 30 ausgelost. Darunter war ein hoher Anteil von Menschen, die sich in der Kommunalpolitik ohnehin ständig zu Wort melden. Ein solcher Zufallsbürger-Ausschuss ist also – nüchtern besehen – ganz weit davon entfernt, ein repräsentativer Spiegel der Stadtbevölkerung zu sein. Das sind die Teilnehmenden am Bürgerentscheid weit eher. Die durchschnittliche Beteiligung an Bürgerentscheiden ist in Baden-Württemberg 53 Prozent. Weil beim Zufallsbürger-Ausschuss nicht nur der Zufall über die Teilnahme entscheidet, sondern ganz wesentlich auch die Bereitschaft, sich „laut“ und entschieden zu äußern, bleibt der fromme Wunsch, der Zufallsbürger-Ausschuss möge einen „leisen“, noch nicht gehörten Teil der Bevölkerung abbilden, oft nicht mehr als eine liebenswerte Illusion.
Zur Person
Edgar Wunder
ist Landesvorsitzender des Vereins Mehr Demokratie und hat in den letzten Jahren mehr als 500 Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Baden-Württemberg begleitet. Wunder hat als Sozialwissenschaftler und Geograf an verschiedenen Universitäten gelehrt und arbeitet heute im Referat für Strategische Planung des EKD-Kirchenamts für die Evangelische Kirche.