Dass sich in der Beratungsstelle Kinder wohlfühlen, ist Isabelle Schall, Regine Gelsdorf und Martina Huck (von links) wichtig. Zur Präventionsarbeit werden die Puppen auch in Schulen und Kindergärten mitgenommen. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg

In den vergangenen Wochen ist Martina Huck immer mal wieder in den Keller gestiegen und hat in alten Ordnern und Unterlagen geblättert. Der Verein Wildwasser, dessen Geschäftsführerin sie ist, feiert sein 25-jähriges Jubiläum - und da ist der Blick zurück natürlich Programm. Die Geschäftsführerin und Isabelle Schall, die sich ums Spendensammeln und die Öffentlichkeitsarbeit kümmert, haben aber nicht nur Akten gewälzt. Sie haben mit einigen Frauen der ersten Stunde über deren Erinnerungen geplaudert. „Heute ist es fast unvorstellbar, was die Gründerinnen des Vereins alles ehrenamtlich geleistet haben“, sagt Martina Huck. „Der Kampfgeist war damals einfach anders als heute.“

Obdach im Komma

Mit Infoständen und Diskussionsabenden zum Thema „sexueller Missbrauch“ hatte sich der frisch gegründete Verein zwar in der Stadt Esslingen bekannt gemacht. Doch ein Dach über dem Kopf hatten die engagierten Frauen nicht. Das Jugend- und Kulturzentrum Komma bot ihnen schließlich Obdach. „Das war aber ein Durchgangszimmer zwischen der Küche und der Motorradwerkstatt“, hat Martina Huck im Gespräch mit den Vereinsgründerinnen erfahren. „Es konnte also sein, dass während eines Beratungsgesprächs plötzlich einer der Motorradschrauber durch den Raum lief.“ In den Anfangsjahren galt es nicht nur, die persönliche und telefonische Beratung zu organisieren, eine Selbsthilfegruppe für Frauen, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren, zu betreuen und ein Präventionsprojekt in Kindergärten und Schulen zu starten. Vor allem musste die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert werden. „Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen war damals ein absolutes Tabu“, erklärt Isabelle Schall. Das wird auch in der Aussage eines Stadtrats deutlich, die Martina Huck in einem alten Zeitungsbericht entdeckt hat. „Er hat gesagt, dass es so etwas doch in Esslingen nicht gibt. Und er war wirklich davon überzeugt.“

Dass die Aussage des Stadtrats mit der Realität wenig zu tun hatte, zeigt die Statistik des Vereins aus dem Jahr 1994: 104 Frauen hatten persönlich bei den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Vereins Hilfe gesucht, 260 hatten die Telefonberatung in Anspruch genommen. Da die Arbeit ehrenamtlich nicht mehr zu stemmen war, beantragte Wildwasser bei der Stadt und beim Kreis Zuschüsse. Wie zwei Jahre zuvor scheiterte aber auch dieser Antrag. Nachdem der Esslinger Frauenrat der Forderung durch eine Petition Nachdruck verliehen hatte, bewilligte die Stadt Esslingen einen Mietkostenzuschuss für Räume in der Obertorstraße.

„Der Landkreis kam damals allerdings nicht so richtig in die Pötte“, erzählt Martina Huck. „Die Ehrenamtlichen mussten weiter bangen und standen kurz vor dem Kollaps.“ Zur Jahrtausendwende wurde der Traum dann aber doch noch wahr: Der Kreis bewilligt eine 50-Prozent-Stelle für eine Psychologin und Wildwasser wird zur „Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt“, die seit 2003 ihren Sitz in der Merkelstraße 16 hat. Seit sechs Jahren finanziert der Landkreis eine weitere 50-Prozent-Kraft für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. „Als Anlaufstelle für Mädchen, Jungen und Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, sind wir inzwischen anerkannter Träger der freien Jugendhilfe“, erklärt Martina Huck. „Wir sind mit anderen Beratungsstellen, den sozialen Diensten im Kreis und bei der Stadt und anderen öffentlichen Einrichtungen gut vernetzt, haben ein gutes Standing und eine tolle Beratungsstelle.“

Das Bangen um die finanzielle Existenz bestimmt dennoch weiterhin die tägliche Arbeit - sowohl der Haupt- als auch der Ehrenamtlichen bei Wildwasser. „Ohne Spenden können wir nicht überleben“, macht Isabelle Schall klar. Was passiert, wenn die Spendengelder einbrechen, erlebte Wildwasser vor sechs Jahren. „Da standen wir kurz vor der Insolvenz.“ Dass der Verein inzwischen wieder in ruhigerem Fahrwasser angelangt ist, „verdanken wir neben dem Engagement unserer Ehrenamtlichen den privaten Spendern“. So seien nicht nur alt eingesessene Esslingerinnen und Esslingern dem Verein wohl gesonnen. „Auch lokale Stiftungen und viele kleinere Firmen fühlen sich uns sehr verbunden.“ Die Spenden fließen unter anderem in Angebote für erwachsene Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten haben.

„Wir brauchen einen Frauen-Notruf“

Neben den öffentlichen Zuschüssen, die mit fast 100 000 Euro zu Buche schlagen, steuerte der Verein im vergangenen Jahr rund 71 000 Euro Eigenmittel bei. „Um unsere jetzige Leistungskraft zu erhalten, müssten wir jährlich rund 90 000 Euro eigene Mittel aufbringen, was aber nicht machbar ist“, erklärt Martina Huck. So ist die Geschäftsführerin froh, dass sich die Gemeinden Baltmannsweiler, Aichwald, Ostfildern und Esslingen an der Finanzierung von Angeboten beteiligen, die nicht zur Pflichtaufgabe des Landkreises gehören. Zum runden Geburtstag des Vereins wünscht sich die Geschäftsführerin nicht nur, dass weitere Gemeinden im Umland diesem Beispiel folgen. „Im Landkreis gibt es bis heute keine Stelle, an die sich Frauen bei aktueller Gewalterfahrung wenden können“, verdeutlicht Martina Huck. „Wir brauchen also einen Frauen-Notruf.“

www.wildwasser-esslingen.de

Veranstaltungen zum Jubiläum

Benefizkonzert:Das 25-jährige Bestehen feiert der Verein Wildwasser mit einer ganzen Reihe an Veranstaltungen. Am Sonntag, 16. Oktober, beginnt um 17.00 Uhr im Münster St. Paul das Benefizkonzert „Klangzauber“. Dort wird auch das Lied „Schutzengel“ zu hören sein, das Nitya Ulmer geschrieben und dem Verein geschenkt hat. Die Liedermacherin hat Wildwasser aber nicht nur ein Lied, sondern gleich 1000 ihrer selbst produzierten CDs gespendet. „Die dürfen wir verkaufen, und so fließt der komplette Erlös in unsere Arbeit“, freut sich Martina Huck.

Lesung und Pantomime: „Ich bin doch keine Zuckermaus“ heißt es am 17. November, bei einer Lesung für Kinder im Rahmen des Esslinger Literaturfestivals LesART. Am 18. Februar wird der Meisterpantomime Carlos Martinéz mit seinem Programm „Human Rights“ in der Begegnungskirche auftreten. Zum Internationalen Frauentag am 8. März planen die Frauen von Wildwasser eine Straßenaktion unter der Überschrift „Schaut her“. Und beim 10. Esslinger Entenrennen, das Round Table Esslingen organisiert, ist auch Wildwasser wieder dabei.