2006 – Tokio Hotel-Fans in der Schleyerhalle. Hach, was waren das für Zeiten. Mehr Bilder für nostalgische Momente in unserer Bildergalerie. Foto: /Kraufmann

Redakteurin Anja Wasserbäch hat sich als Studentin den Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Konzertkritiken verdient. Heute scheint das Leben in Clubs und Mehrzweckhallen weit weg – und weckt umso nostalgischere Gefühle. Anlässlich 75 Jahre Stuttgarter Nachrichten: Erinnerungen einer Konzertkritikerin.

Stuttgart - Es gibt Konzerte, auf die sich alle Konzertkritiker einigen konnten: Bob Dylan, Nick Cave, Neil Young, früher auch mal Morrissey. Doch es gab viel mehr Konzerte, die besucht werden sollten. Es war die Zeit von den No Angels, von Bro’Sis und Sarah Connor. Oft fand sich nicht einmal ein „plus 1“, also eine Begleitung, die die zweite Freikarte in Anspruch nahm. Stehplatz in der Liederhalle: Sarah Connor war noch mit Marc Terenzi verheiratet, sang „From Sarah with Love“ und kleine Mädchen freuten sich sehr darüber. Die Fans waren klein, das Smartphone noch nicht erfunden. Block und Stift waren das Handwerkszeug. Auch wenn man die Notizen, die man in dunklen Hallen gemacht hatte, meist danach nicht mehr entziffern konnte. Eines der Mädchen fragte: „Was machen Sie denn da? Schreiben Sie Tagebuch?“

Die Tokio-Hotel-Fans – laut, verrückt

Alles hat seine Zeit. Und es gab in der Musikgeschichte schon sehr interessante Zeiten. Mittendrin im Stuttgarter Erfolgsgeschehen war natürlich immer wieder die Schleyer-Halle. Die Halle, eigentlich für Sportveranstaltungen geplant, wurde 1983 zur Musikbühne: Saga war die erste Band vor Ort. Und sie kamen alle hier her: Elton John, Luciano Pavarotti, für den die Umkleidekabine zu weit weg vom Aufzug war. Lange Zeit war die Kelly Family Spitzenreiter, was die Zahl der Fans angeht, spielten sie zu ihrer Hochzeit sogar zwei Konzerte am Tag. Ihre Fans campierten schon mal eine Woche zuvor vor dem Haupteingang, nach dem Konzert war ein Raum in den Katakomben der Halle voll mit Kuscheltieren, die niemand haben wollte. Am lautesten aber war es jedoch eindeutig bei Tokio Hotel im Jahr 2006: Die Masse hat nie wieder so laut geschrien, wie die jungen Fans von Bill und Tom Kaulitz.

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Mit einer unschönen Anekdote hat es die Schleyer-Halle in die Biografie von Robbie Williams geschafft: „Nächster Halt: Stuttgart, außerdem, auch wenn das noch niemand ahnt, ein Zwischenfall, der auf der ganzen Welt für Schlagzeilen sorgen wird.“ Es war die Tour im Jahr 2001. Es ist der Beginn von Robbies Solo-Karrierehoch. „Sing when you’re winning“ ist bereits erschienen. In der Halle erklingen die ersten Takte von „Supreme“, dann stößt jemand Robbie Willams von der Bühne. Die Musik verstummt. Nicht lange und Williams ist wieder am Mikro „Is everybody okay?“ Ein Profi. Ein Fan, der dachte, da stehe nicht der echte Robbie Williams auf der Bühne hatte ihn heruntergestoßen. Williams bringt das Konzert zu Ende, will aber anschließend schnell aus der Stadt verschwinden: „Das grässliche Kaff hinter mir lassen“, wie in „Somebody Someday“ zu lesen ist.

Cro – der Mann mit der Maske

Cro war der erste deutsche Internetstar, ein Stuttgarter Gewächs. Der Pandarapper hatte schnell Erfolg, sehr schnell. 2012: Erster Auftritt im Club Universum am Charlottenplatz. „Hey Kids, ich bin Carlo, werft den Arm hoch und gebt mir ein Hallo“, singt Cro von der Bühne. Die jungen Menschen rufen „Hallo“ zurück. So ist das also, wenn ein Internetphänomen in der Realität zum Popstar taugt. Cro ist Phantom. Und Phänomen. Und er bringt Stuttgart auf die musikalische Landkarte zurück. Seine allererste Tour, die ihn von Hannover über München und Köln bis nach Kiel führt, ist komplett ausverkauft. Und das noch bevor ein Handzettel gedruckt und ein Plakat aufgehängt war. Im selben Jahr tritt er in der Schleyer-Halle auf.

Campino spöttelt über Böblingen

Es gab eine Zeit, da fuhr man für Konzerterlebnisse raus nach Böblingen und Sindelfingen. Schuld daran war ein Konzert von Canned Heat 1969, da wurde die Liederhalle so demoliert, dass es von der Stadt ein Verbot von Rock- und Pop-Konzerten gab. Also musste man ausweichen. In der Böblinger Sporthalle spielten Santana, Johnny Cash, Frank Zappa, Pink Floyd und Abba. Und in den Nullerjahren traten hier Coldplay, 50 Cent und die No Angels auf. Auch Die Toten Hosen gaben hier mal ein sehr langes Abschlusskonzert, kurz vor Silvester 2002. In Böblingen „dem Rock-’n’-Roll-Tor zur Welt“, wie Campino es nannte. Das reguläre Set, das nicht nur nostalgisch verklärt womöglich schon zwei Stunden dauerte, war vorbei, und los ging die Setlist von vorne. Viele Jahre später sollten die Toten Hosen auf ihrer Magical Mystery Tour in Hülben auf der Alb spielen. Es waren gerade mal 50 Leute da. Die Profis aus Düsseldorf spielten in diesem Wohnzimmer gefühlt genauso lange. Immer genauso lange.

Snoop Dogg – ein Quickie in Stuttgart

Superstars haben Superwünsche: Beyoncé etwa hatte bei ihrem Auftritt in Stuttgart mit einer alten Regel gebrochen. Die lautete viele Jahre für Pressefotografen im Graben vor der Bühne: „drei Lieder ohne Blitz“ – so lange durfte fotografiert werden. Beyoncé aber wollte nur 30 Sekunden fotografiert werden, wie sie aus dem Nebel auf die Bühne glitt. Ein schönes, wenn auch sehr kurzes Bild. Kurz war auch der Auftritt von Snoop Dogg auf der Freilichtbühne im Killesberg. 2015 war das. Der Rap-Superstar Snoop Dogg gibt sein einziges Deutschlandkonzert in Stuttgart. Kommt er? Kommt er nicht? Das Bohei um den Auftritt war im Vorfeld groß. Das Ende vom Lied: mehr Performance als Konzert, knapp 50 Minuten für 50 Euro.