Schülerinnen des St. Agnes-Gymnasiums und Bürgermeisterin Isabel Fezer bei der Gedenkstunde. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

83 Jahre nach der ersten Deportation von württembergischen Juden aus Stuttgart haben Schülerinnen des St. Agnes-Gymnasiums am Killesberg an die damaligen Geschehnisse erinnert.

Den gewaltsam Verstummten „eine Stimme geben und sie wieder zu Mitbürgern machen“ – diesen Versuch haben anlässlich des 83. Jahrestags der Riga-Deportation am Montag Schülerinnen des St. Agnes-Gymnasiums unternommen und einprägsam umgesetzt. Mit ihrem Geschichtslehrer Andreas Gräf, Bärbel Hornberger-Fehrlen vom Verein Zeichen der Erinnerung und Christian Werner vom Lern- und Gedenkort Hotel Silber zeichneten sie den Leidensweg von zwei der Deportierten, Robert Fleischer aus Göppingen und Hannelore Marx aus Stuttgart nach. Die beiden gehörten zu den wenigen Überlebenden des Riga-Transports.

Nur 43 der Deportierten überlebten

Von den 1011 Jüdinnen und Juden, die am 1. Dezember in fünf Güterzüge gepfercht und dann drei Tage und vier Nächte nach Riga ins Lager „Jungfernhof“ gekarrt wurden, überlebten nur 43. Die anderen starben an Krankheiten, gingen zugrunde, erfroren oder wurden im Wald von Biernicki erschossen.

Herzzerreißend sind die von den Schülern in der Staatlichen Akademie der Künste vorgetragenen Auszüge aus den Überlebenserinnerungen der beiden Deportierten. „Wie Vieh wurden wir zum Bahnhof getrieben“, hielt der damals 14-jährige Robert Fleischer in seinen Aufzeichnungen fest.

Zuvor hatten sich Juden aus mehr als 60 württembergischen Kommunen aufgrund eines Gestapo-Erlasses auf dem Gelände der ehemaligen Reichsgartenschau auf dem Killesberg einfinden müssen. Die Nazis hatten hier ein Sammellager errichtet. Von dort führte ihr Weg an jenem 1. Dezember zwangsweise zum Nordbahnhof. Bürger schauten zu. „Fahrt zur Hölle, Saupack!“, dröhnte es Robert Fleischer im Ohr.

Andreas Keller vom Verein Zeichen der Erinnerung, der die Gedenkstätte am Nordbahnhof pflegt, ergänzt die Schilderungen mit nüchternen Zahlen. Die meisten der Deportierten kamen demnach aus Stuttgart (338). Die anderen aus Haigerloch (120), Heilbronn und Rexingen (je 53), Göppingen (46), Buchau (28), Ulm (25), Laupheim (23), Baisingen (21) und Buttenhausen (20).

Aus den Erinnerungen von Hannelore Marx, geborene Kahn, lesen die Schülerinnen eine Passage, in der sie den Abschied von ihrer Mutter aus dem Lager schildert. Sie wurde irgendwann abtransportiert und zusammen mit anderen erschossen. „Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie auf den Wagen steigt. Dieses Bild geht nicht mehr aus meinem Kopf.“ Ihr Vater und sie hätten bitterlich geweint, notierte Hannelore Kahn. Sie konnte sich mit ihm nur über Stacheldraht hinweg unterhalten – bis auch er eines Tages nicht mehr kam. Auch er wurde ermordet. „Ich wollte überleben, um der Welt von den Verbrechen der Nazis zu erzählen“, lesen die Schülerinnen vor. Sie war die einzige aus der Familie, der das gelang.

Gedenken auf dem Killesberggelände mit Michael Kashi von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg Foto: Jan Sellner

Schulbürgermeisterin Isabel Fezer hält es für wichtig, „die Schrecklichkeit zu verinnerlichen und weiterzutragen“, wie sie in der Gedenkstunde sagt. Auch Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, hält „das Wissen, über das was geschehen ist, für unerlässlich, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt“. Den Schulen komme eine zentrale Aufgabe zu, betont er am Gedenkstein für die Deportieren auf dem Killesberggelände, wohin die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung am Ende gemeinsam gehen.

Eindrücklich ist, was zuvor Karl-Eugen Fischer, Pfarrer an der Evangelischen Nordgemeinde, sagt: Die Juden „wurden“ nicht einfach Opfer, sondern es gab Menschen, die sie verfolgten, ausgrenzten und ermordeten. „Die häufig verwendet passive Sprache verschleiert und nimmt die Täter aus dem Blick“, meint er. Umso wichtiger sei es, sich aktiv gegen Antisemitismus einzusetzen.