Verbündete braucht man immer. Fern der Heimat erst recht. Foto: Jonas Walzberg/dpa

Wie ein fehlender Koffer und eine Whats-App-Gruppe einen auch über den Hagebuttentee am Abend hinwegtrösten. Ein Loblied auf die Kurfreundinnen.

Eigentlich hat man als erwachsener Mensch keine Lust mehr auf Klassenfahrten. Und Reha, das klingt verdammt nach einer Klassenfahrt, auf der man die anderen Teilnehmerinnen noch nicht kennt, der Hagebuttentee am Abend aber sicher ist. Und neue Freundinnen fürs Leben braucht man ja auch nicht. Oder? Könnte also zäh werden.

Und dann war erst mal plötzlich Evy da. Keine Ahnung, wie sie an den Tisch geraten war. Sie saß am Platz gegenüber und lachte freundlich hinter ihren runden Brillengläsern vor. Was ein Glück. Denn so eine Tischgemeinschaft kann eine ziemlich quälende Angelegenheit sein.

Dabei hatte Evy eigentlich gerade gar nichts zu lachen. Denn sie erzählte, als würde sie gar nicht groß beunruhigen, was andere schnell mal für eine mittlere Katastrophe halten: „Meine Koffer sind nicht da.“ Interessant. So kann man das also auch sehen. Entspannt. Nun muss man wissen, dass das der Horror aller ist: Zwei Koffer mit den Lieblingsklamotten auf unabsehbare Zeit verschollen im Orbit der Deutschen Bahn oder des beauftragten Koffertransporteurs. Da kann man sich schon einiges vorstellen. Oder?

Hilfe beim Mittagessensritual

Evy sagte einfach, dass sie alles Überlebensnotwendige in ihrem Rucksack habe. Und lachte. Eine Nacht hatte sie so schon hinter sich gebracht. Wer einmal wie sie in einem norwegischen Gefängnis gearbeitet hat, den bringt wahrscheinlich nichts so schnell aus der Ruhe. Hatte sie auch gar keine Zeit für, denn sie wurde von uns anderen schnell ins heilige Mittagessensritual eingeweiht. Wie bei einer anständigen Klassenfahrt gibt es auch bei den Erwachsenen Regeln für alles. Also: Immer schön sichtbar den Zettel mit dem Essenswunsch (Essen 1, Essen 2 oder Essen 3) auf dem Tisch deponieren und auf sich und das Stück Papier aufmerksam machen. Am besten durch Winken und Wedeln. Dann kommt ein dienstbarer Geist und tauscht Zettel gegen Essensteller. Und schon weiß man, warum man vielleicht doch ein paar Reha-Lebensabschnittsfreundinnen braucht.

Kamilla war die, die schon bei flüchtiger Begegnung auf den gefühlt 1000-Schritt-langen Fluren – das ist übrigens die Einheit, die hier zählt – immer genickt und verschwörerisch gegrinst hat. Da hatten wir noch nicht an einem Tisch gesessen. Und Helga, die konnte zwischen Nudeln mit sehr weichem Brokkoli und Vanillepudding, gleich noch eine Koffergeschichte beisteuern. Eine andere Frau, so wusste sie, habe drei Tage auf ihre Koffer gewartet, bis sich jemand dran erinnert habe, dass die aus ungeklärten Gründen im Keller abgestellt worden waren. Und nicht in ihrem Zimmer.

Evys Kofferproblem löste sich dann doch schneller. Genauer gesagt nach einem Tag. Aber ich bin mir sicher, wir hätten sie auch durch ein viel längeres Tief gecoacht. Ehrensache. Also schnell mal eine Whats-App-Reha-Camp-Gruppe eingerichtet. Das ist so was wie ein Versprechen, von nun an Verbündete bei Koffer- und auch anderen (Lebens)Frage zu haben. Zumindest für die nächsten drei Wochen.

Und wo sonst hätte Kamilla ihre Handy-Fotos hingeschickt, die sie aus der Dachluke ihres Zimmers von uns allen machte. Also von Evy auf der Aussichtsplattform am Strand und mir beim Telefonieren auf der Wiese. Und wie sonst hätte uns Helga an den vielen Sonnenuntergängen teilhaben lassen können. Und den Schweinswalen, die ihr mitten durchs Bild schwammen. Mit Extra-Herzchen und hin und wieder ein paar Wut-Smilies kommt man echt besser über die Runden.

Das alles ist jetzt schon ein Weilchen her. Aber manchmal schreibt jemand in die Gruppe: „Ich vermisse euch“. Und dann geht eine Kaskade an Posts los. Wir wissen jetzt, wie die neue Küche von Kamilla aussieht, unser Bad, Evys Garten und Helgas Spazierweg zu Hause. Die Gruppe haben wir natürlich nicht gelöscht. Im Rückblick war die Klassenfahrt dann doch ganz okay. Hagebuttentee am Abend gab’s übrigens wirklich.