Der ukrainische Präsident gibt den Ton vor. Foto: dpa/Efrem Lukatsky

Der ukrainische Präsident gerät im Land vermehrt in die Kritik. Daraufhin suspendiert er zwei wichtige Vertraute. Das sind die Gründe

Völlig überraschend kam diese ukrainische Volte nicht. Schon im Juni gab es Berichte darüber, dass das Tischtuch zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Kindheitsfreund Iwan Bakanow zerschnitten sein soll. Das ist insoweit von Bedeutung, dass Bakanow damals der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes war. „Wir sind sehr unzufrieden mit seiner Arbeit und arbeiten daran, ihn loszuwerden“, sagte ein hochrangiger ukrainischer Beamter damals gegenüber dem Magazin „Politico“. Nun ist es so weit: Bakanow muss die Leitung des Geheimdienstes abgeben, und auch Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa muss gehen.

Bakanow hat Selenskyj zur Präsidentschaft verholfen

Bakanow hatte die Produktionsgesellschaft geleitet, unter der Selenskyj große schauspielerische Erfolge feierte, indem er den Präsidenten der Ukraine in einer Fernsehserie spielte. Später hat er die Kampagne orchestriert, mit der Selenskyj zum echten Präsidenten gekürt wurde. Seit 2019 durfte er den Geheimdienst leiten. Jetzt heißt es, Bakanow habe verpasst, auf die russische Invasion am 24. Februar zu reagieren. Zudem werden ihm schwere Versäumnisse im Umgang mit seinen 30 000 Agenten vorgeworfen. Am Montag machte der Präsident den bisherigen Stellvertreter des Geheimdienstes, Wassyl Maljuk, zum neuen Interimschef – verbunden mit der Erklärung, dass Bakanow und die Generalstaatsanwältin nicht entlassen, sondern suspendiert seien.

Wenediktowa hat an Zustimmung gewonnen

Auch Iryna Wenediktowa hat als ehemalige Beraterin ein besonders enges Verhältnis zum Präsidenten. Zu Friedenszeiten war die 43-Jährige noch umstritten. Der Vorwurf, Selenskyj habe sich durch ihre Ernennung Einfluss auf die Justiz verschaffen wollen, stand da im Raum – und schien sich zu bestätigen, als Wenediktowa Ermittlungen gegen Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko wegen Staatsverrats einleitete. Mit Beginn des Krieges hatte Wenediktowa in der Öffentlichkeit aber an Zustimmung gewonnen, als sie versprach, rigoros gegen Kriegsverbrecher vorzugehen – und auch mögliche Verräter in den eigenen Reihen zur Rechenschaft zu ziehen.

Vergangene Woche erklärte Wenediktowa, dass ihre Behörde in 23 000 Fällen von mutmaßlichen Kriegsverbrechen gegen Russen ermittle. 127 Verdächtige seien identifiziert worden, bisher wurden sechs Urteile gefällt. Dabei ging es um Fälle von Mord, Zerstörung von Häusern, Vergewaltigung und Plünderung. Von der Bevölkerung und selbst bei politischen Konkurrenten wurde ihre Arbeit anerkannt. Nun hieß es, in ihrer Abteilung habe es viele Fälle von Zusammenarbeit mit Russland gegeben.

Alte Fronten brechen wieder auf

Eine ähnlich breite Zustimmung wie für die Generalstaatsanwältin hat der Präsident derzeit nicht. Die Selenskyj-Regierung galt schon vor dem Krieg nicht gerade als auskunftsfreudig gegenüber dem Parlament, das auch nach dem russischen Angriff seine Arbeit weitermacht. Seit Kriegsbeginn wurden rund 200 Gesetze verabschiedet. Inzwischen bekommen die Parlamentarier aber kaum mehr Antworten auf ihre Anfragen, und die Solidarität mit dem Präsidenten beginnt zu bröckeln.

Traditionell sind die Mitglieder der Rada in Kiew äußerst selbstbewusst und verstehen sich als Gegengewicht zum jeweiligen Präsidenten. Der Krieg hat das für eine kurze Zeit vergessen lassen. Da scharten sich die Abgeordneten hinter ihrem Präsidenten und rechneten ihm hoch an, dass er das Land nicht verlassen hat. Inzwischen brechen alte Fronten wieder auf. Die Regierungspartei „Diener des Volkes“ hält zwar die absolute Mehrheit, doch schon vor dem Krieg haben zahlreiche Abgeordnete den Dienern im Streit den Rücken gekehrt, weil versprochene Reformen ausgeblieben sind.

Fragen über eigene Fehler kommen auf

Wie viele Soldaten die ukrainische Armee inzwischen verloren hat, ob es wirklich mehrere Zehntausend sind, wie manche munkeln, das erfahren auch die Parlamentarier nicht. Ob es stimmt, dass auch ukrainische Soldaten in großem Stil desertieren, warum der Süden des Landes so einfach zu erobern gewesen ist – auf all diese Fragen der Parlamentarier gibt es keine Antworten vonseiten der Regierung. Die verstärkt vielmehr ihre Rhetorik und redet darüber, wie die von Russland besetzten Gebiete zurückerobert werden sollen.

Bei vielen Abgeordneten rückt daher nun wieder die Frage in den Vordergrund, die schon zum Ende des vergangenen Jahres einmal eine Rolle gespielt hatte, dann aber von den Ereignissen überlagert wurde: Hat der Präsident die Bedrohung aus Russland rechtzeitig ernst genommen? Warnungen vor einem russischen Angriff hatte es schon seit Herbst 2021 gegeben. Sowohl der Präsident als auch einflussreiche Persönlichkeiten aus seinem Umfeld hätten diese aber nicht ernst genommen, so der Vorwurf.