Matchwinner im Halbfinale: Ollie Watkins. Foto: imago/osnapix/Hirnschal

Nach der mit Abstand besten eigenen Turnierleistung strebt das Team von Gareth Southgate nun den ganz großen EM-Wurf an – und könnte dem Favoriten Spanien im Endspiel tatsächlich gefährlich werden.

Als die letzte Frage beantwortet war, schien Ollie Watkins das Erlebte ganz allmählich zu realisieren: Englands Stürmer griff nach seinem Pokal für den Spieler des Spiels, verließ die Pressekonferenz – begleitet von einem kopfschüttelnden Lächeln, das ihm für einen kurzen Moment über das Gesicht huschte. Nichts, aber auch gar nichts hatte in den vergangenen Wochen darauf hingedeutet, dass der 28-jährige Ersatzspieler in seinem Team noch eine bedeutende Rolle bei der EM einnehmen würde. Gerade deshalb aber war er der fast schon logische Matchwinner beim 2:1-Sieg im Halbfinale gegen die Niederlande. Denn: Auch die englische Mannschaft legte in Dortmund einen äußerst unerwarteten Auftritt hin.

Reichlich spät, vielleicht aber genau pünktlich sind die Three Lions auch fußballerisch im Turnier angekommen. Der Abend in Westfalen brachte nichts weniger als die wundersame Wandlung einer viel gescholtenen Mannschaft, die ihr immenses Potenzial bis dahin nicht im Ansatz ausgeschöpft hatte. „Wir wussten, dass wir explodieren müssen“, betonte Mittelfeldspieler Kobbie Mainoo, „die ersten Spiele haben nicht dem entsprochen, was wir können.“ Das Halbfinale dagegen schon.

Southgate geht mit seinen Wechseln erstmals ins Risiko

Erstmals im Turnier legte England statt zögerlichem Abwarten viel offensive Zielstrebigkeit an den Tag – und das nicht nur punktuell, sondern über weite Strecken. Nach dem frühen Rückstand durch Xavi Simons’ Distanzschuss (7.) und dem schnellen Ausgleich durch Harry Kanes Foulelfmeter (18.) schalteten sie nicht wie zuletzt zurück in den Verwaltungsmodus – nein: sie blieben mutig, sie griffen weiter an. Dieser Mut führt direkt zur Personalie Watkins.

Trainer Gareth Southgate sorgte nämlich durchaus für hochgezogene Augenbrauen, als er in der Schlussviertelstunde mit seinen Wechseln ins Risiko ging. Phil Foden musste runter, Harry Kane ebenfalls, verletzt war keiner der beiden Offensivstars. „Wir haben etwas Energie und Frische verloren“, begründete Southgate die Maßnahme, der in Kane auch einen sehr sicheren Elfmeterschützen vom Feld nahm. Auf den Showdown vom Punkt hatte Englands Coach an diesem Abend aber gar keine Lust, vor allem aus Kraftgründen: „Wir wollten nicht nochmals durch die Verlängerung. Das hat uns eine halbe Stunde erspart.“

Das lag ganz wesentlich an den eingewechselten Watkins und Cole Palmer – von der englischen Presse inzwischen als „Super Subs“ geadelt, als super Ersatzspieler also. Im bisherigen Turnier hatten sie bestenfalls Nebenrollen, Southgate wechselte schlichtweg sehr spät oder gar nicht. Er habe während des Turniers viele Nachrichten von Freunden bekommen, so Watkins, die ihn aufbauten und an sein Durchhaltevermögen appellierten.

Als der Stürmer von Aston Villa dann in Dortmund wirklich an der Seitenlinie stand, war die Sache klar: Diese unverhoffte Chance will er nutzen. „Ich schwöre auf alles. Ich habe vor der Einwechslung zu Cole Palmer gesagt: Du spielst mich an und ich mache das Tor.“ Exakt so kam es in der Nachspielzeit: Das scharfe Zuspiel von Palmer nahm Watkins gekonnt nach außen mit und traf mit dem zweiten Kontakt aus der Drehung. „Ein großartiges Tor“, gab selbst Bondscoach Ronald Koeman zähneknirschend zu. Der Rest war Ekstase auf den Rängen, bis lange nach Abpfiff und auch außerhalb des Stadions.

Der letzte große Titel liegt fast sechs Jahrzehnte zurück

Noch um 1 Uhr nachts besangen die freudetrunkenen englischen Fans in den Dortmunder S-Bahnen den Sieg – und die nächste, finale Reise: „We’re all going to Berlin.“ Dort, in der Hauptstadt, steigt am Sonntag (21 Uhr/ARD) das Endspiel gegen die starken Spanier. „Wir sind hierher gekommen, um das Turnier zu gewinnen“, sagt Southgate, „und das ist noch immer unser Ziel.“ Was lange schwer vorstellbar schien, ist nun wirklich nicht mehr abwegig.

Das liegt nicht nur an der neu entdeckten Offensivwucht und der breiten Brust: Ihre bisherige Stärke haben die Engländer in ihrem Wandlungsprozess nämlich nicht verloren – und die werden sie gegen die spanische Spielstärke dringend brauchen: die defensive Stabilität. Der niederländische Toptorschütze Cody Gakpo (drei Turniertreffer) zum Beispiel erlebte im Halbfinale einen harten Abend, er kam gegen Kyle Walker kaum zum Zug. Auch sonst liefen die Engländer etliche Löcher zu, gestatteten dem Gegner im zweiten Durchgang trotz mehr Ballbesitz kaum große Torchancen.

Zum Endspiel-Favoriten macht sie das natürlich noch lange nicht. Man treffe auf das beste Team des Turniers, so Southgate. Einen verbalen Schulterklopfer gab ihm indessen sein Trainerkollege in Dortmund mit auf den Weg nach Berlin: Klar könne England die Spanier aufhalten, sagte Ronald Koeman: „Warum denn nicht? Sie sind eine Weltklasse-Mannschaft.“

Die lechzt nach dem zweiten großen internationalen Titel seit fast sechs Jahrzehnten und dem WM-Sieg von 1966 „Es wird ein Spiel, um Geschichte zu schreiben“, sagt Kapitän Kane, „und genau das wollen wir.“ Im Halbfinale haben sie ihre Ambitionen mit Taten unterlegt.