Verhängnisvolle Wohnungsmodelle: Emily und Tom (Josephine Köhler und Julius Forster, vorne rechts) erahnen in Clemens J. Setz’ Stück „Die Abweichungen“ die Fehler im System ihrer Familien. Foto: Björn Klein - Björn Klein

In seiner Komödie „Die Abweichungen“ spielt der Autor Clemens J. Setz mit Fehlern im Familienalltag. Elmar Goerden hat die Uraufführung am Staatstheater Stuttgart inszeniert.

StuttgartDer Alltag nicht ganz gewöhnlicher Menschen verrutscht in Clemens J. Setz‘ neuem Stück „Die Abweichungen“. Nach dem Suizid der Putzhilfe Jennifer Jassem lüften Polizisten in deren Wohnung ein dunkles Geheimnis. Akribisch hat die verkannte Künstlerin Modelle der Wohnungen, in denen sie arbeitete, nachgebaut. Fast originalgetreu, doch jedes Mal weicht ein kleines oder größeres Detail von der Vorlage ab. Im Stück spielt der Autor mit Fallstricken im System. „Glitches“ nennt man Fehler im Programmcode eines Computerspiels. Die Faszination solcher digitaler Möglichkeiten überträgt der Autor nun in die Literatur. Regisseur Elmar Goerden denkt in seiner Uraufführung im Kammertheater des Stuttgarter Staatstheaters die Logik der Cyberwelt zwar mit. Jedoch tastet er sich zusammen mit dem Ensemble in dieser dritten Premiere zum Start des neuen Schauspielintendanten Burkhard C. Kosminski zunächst an die Verletzlichkeit der Figuren heran.

Dieser Spagat macht den Reiz der Regiearbeit aus, die dem Text des 36-jährigen Österreichers sehr gerecht wird. Setz hat Germanistik und Mathematik studiert, ist Computerfreak und liebt Literatur. Mit seinen Grenzgängen bringt er Zeiterfahrungen einer Generation auf die Bühne, die in der virtuellen Realität Halt sucht. In „Die Abweichungen“ legt Setz mithilfe der liebevoll gestalteten Pappmodelle aus dem Fundus der verstorbenen „Putze“ die wunden Punkte der Figuren offen.

Den Menschen auf der Spur

Silvia Merlo und Ulf Stengl haben eine verschachtelte Bühne geschaffen, die aus einem Computerspiel stammen könnte. Kaltes, weißes Design, dazu sphärische Klänge und elektronisches Geklimper lassen die Realität in dieser Welt verschwimmen. Kostümbildnerin Lydia Kirchleitner lässt die Polizisten in Tatortreiniger-Anzügen auf die Bühne rennen. Ein bisschen erinnert das an Aliens, und am Ende verwandeln die Teenies im Stück den alten Holzschrank in eine Rakete. Doch mit Zukunftsvisionen spielt das Regieteam allenfalls. VR-Brillen brauchen die Zuschauer wahrlich nicht. Regisseur Goerden lenkt den Blick auf die Menschen, denen die Putzhilfe mit ihren Modellen auf die Spur gekommen ist.

Da ist der überforderte Franz Kaindl, der in einem der Modelle statt seines einen Sohnes plötzlich zwei haben soll. Diesen Unterschied stilisiert der Schauspieler Sven Prietz zur Familientragödie mit einiger Fallhöhe. Dass mehr dahinter steckt, als es zuvor der schöne Schein vermuten ließ, zeigt Katharina Hauter als seine Frau Lisa, die den schrecklichen Sog ihrer Depressionen virtuos nach außen kehrt. Derweil übt sich ihr Sohn Tom ( Julius Forster) in Flapsigkeit. Zugleich entlarvt der 16-Jährige die Arroganz seiner Eltern, die Jennifers Suizid nicht aus Mitmenschlichkeit berührt: „Die sind beide total gestresst deswegen“, erzählt er einem Kumpel am Telefon. „So auf die Art: Hilfe, unsere Putzfrau hat sich umgebracht, wer bügelt uns jetzt alles, die Titanic geht unter.“

Setz lässt seine Personen in lebensechter Sprache reden. Der Text – ausdrücklich als Komödie bezeichnet – hat auch komisches Potenzial. Die Figuren lachen und streiten, arbeiten sich an ihren Beziehungen ab. Das gilt auch für das homosexuelle Ehepaar, das um die Liebe seiner 17-jährigen Tochter ringt. Boris Burgstaller und Reinhard Mahlberg gelingen grandiose Studien der Sprachlosigkeit. Der Tod der Putzfrau lässt sie ihr Leben aus ungewohnter Perspektive denken – auch wenn dafür erst der massive Holzschrank umgeworfen werden muss. Aus Angst, andere in ihr Leben und in ihre Arbeit zu lassen, gerät der von Burgstaller gespielte Walter in eine Sinnkrise, die Tochter Emily zu Tränen rührt. Als sensibler Teenie macht Josephine Köhler eine ebenso großartige Figur wie als Kuratorin der Modell-Ausstellung, die für Medienaufmerksamkeit töten würde. Gnadenlos voyeuristisch stellt sie das Leben der anderen zur Schau. Ihre Mutter macht das böse Spiel mit: Darstellerin Verena Buss zelebriert eine erschütternde Kälte. Peter Rühring und Anke Schubert als altes Ehepaar wiederum zeigen mit starkem Schauspiel, wie Senioren an den Rand der Gesellschaft gequetscht werden. Jetzt, wo ihre Haushaltshilfe tot ist, verlieren die beiden den letzten Halt.

Ironie und traurige Geschichten

Über weite Strecken halten Goerden und sein Ensemble die Balance zwischen Setz‘ hoch intelligenter Ironie und den traurigen Geschichten, die hinter seinem Spiel mit Handlungsoptionen stecken. Das Ziel des neuen Intendanten Kosminski, Gegenwartsdramatik in Stuttgart noch stärker als bisher zu fördern, geht mit dem Stück „Die Abweichungen“ voll auf. Dass mit Elmar Goerden ein Vertreter des leisen, poetischen Regietheaters die Uraufführung herausbringt, lenkt den Blick auf die sprachlichen und dramaturgischen Fähigkeiten des Autors. Er verleiht neuen Denkmustern und gewandelten Sehweisen Ausdruck.

Manche der faszinierenden Gedankenschleifen und Zeitsprünge, die den Reiz von Setz‘ Theater ausmachen, erfasst Goerden mit seinem stark an den Figuren und an ihrer Interaktion orientierten Zugriff allerdings nicht. Das Thema der ständigen Präsenz der toten Putzfrau Jennifer, das der Autor klug in den Text webt, ließe sich mit etwas mehr Lust am theatralen Experiment noch griffiger aufzeigen.

Dennoch: Auch ohne Videotechnik und aufwendige virtuelle Effekte erzählt die Produktion von einer Welt, in der das Leben wie auch das Sterben immer anonymer werden. Der Epilog spielt „viele Jahre später“ im hübsch hergerichteten Zimmer eines Pflegeheims. Da sitzt der einstige Macher-Typ Franz Kaindl und spielt mit dem Modell seiner alten Wohnung. Längst ist es für ihn zu spät, sein Leben umzukrempeln. Verzerrte Computerstimmen stehen für die Pfleger, die ihn auf seiner letzten Reise begleiten. Anders als in Setz‘ Text verbannt Goerden das Pflegepersonal ganz ins Off. Einsame Menschen, die von Computern animiert werden, sind die Zukunft.

Die nächsten Vorstellungen: 20. November, 8., 27. und 30. Dezember, 26. und 28. Januar.