Marco v.H. wird am Mittwoch aus seiner Wohnung geführt – so wie 24 weitere Verdächtige. Foto: StN/StZ

Um 6 Uhr rückten Spezialeinheiten in ganz Deutschland bei mutmaßlichen Reichsbürgern an. Unser Redakteur war vor Ort. Eine Geschichte von Prinzen, Impfgegnern und verqueren Theorien.

Dunkle Stille liegt über den 2800 Menschen in Wöschbach. Hin und wieder gähnt und streckt sich einer hinter der Gardine. Durch die Ritzen einiger Rollläden schimmert Licht. Das rosafarbene Haus in der Gartenstraße liegt in nachschwarzer Dunkelheit.

Bis ein Knall auf die Sekunde genau um sechs Uhr die Stille des Dorfes zerreißt. Wie durch Watte sind Schreie zu hören: „Polizei! Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen raus! Legen Sie sich auf den Boden! Auf den Boden!“ Zur gleichen Zeit, als Beamte des Spezialeinsatzkommandos (SEK) im Pfinztaler Ortsteil Wöschbach (Landkreis Karlsruhe) die Tür zur Wohnung von Marco v.H. aufsprengen, stürmen im ganzen Bundesgebiet SEKs und Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) Wohnungen mutmaßlicher Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker.

150 Objekte in elf Bundesländern sind es insgesamt, 38 davon in Baden-Württemberg. Das größte: die Zeppelin-Kaserne des Kommandos Spezialkräfte in Calw. Hier verhaften Polizisten der GSG 9 Andreas M., einen Logistiker im Stab des Bundeswehrverbandes. 21 Männer und vier Frauen werden schließlich am Mittwoch Haftrichtern am Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt. Die ersten gehen noch am selben Tag in Untersuchungshaft.

Die Beschuldigten sollen eine terroristische Vereinigung gebildet haben, die mutmaßlich den Umsturz des politischen Systems in Deutschland vorbereiten wollte. Die Vorwürfe des Generalbundesanwalts Peter Frank: Sie hätten sich Waffen beschaffen, das Parlament stürmen, die Bundesregierung stürzen und die Macht übernehmen wollen. Dafür sollen sie Schießtrainings veranstaltet, Gleichgesinnte angeworben und Kasernen ausgespäht haben.

Verbindungen zum geplanten Anschlag auf Karl Lauterbach

Ausgangspunkt der durch das Bundeskriminalamt (BKA) geführten Ermittlungen sollen Verbindungen von Mitgliedern der nun ausgehobenen Vereinigung zu Angehörigen einer Gruppe „Vereinte Patrioten“ sein. Sie waren im April festgenommen worden, weil sie wohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) entführen wollten. Das BKA bildete die Besondere Aufbauorganisation „Schatten“. Eine Organisationsform, die für umfangreiche und komplexe Ermittlungen gewählt wird. So sind an den Nachforschungen auch die Landeskriminalämter und die Inlandsgeheimdienste der Bundesländer beteiligt.

Neues Staatsoberhaupt und Chef eines Rats aus mehreren Ressortverantwortlichen sollte Heinrich XIII. Prinz Reuß zu Köstritz werden. Ein 71-jähriger Adliger, dessen Geschlecht kaum jemals eine aktive Rolle in der deutschen Geschichte spielte. Der in Frankfurt lebende und gelegentlich in Thüringen residierende Fürst gilt als sonderlich. Um ihn herum: die Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann, die einmal für die AfD im Bundestag saß; Rüdiger von Pescatore, der von sich behauptet, in der Eliteeinheit KSK gewesen zu sein, in Wirklichkeit aber nur Fallschirmjäger war.

Auch Einflüsse der QAnon-Bewegung

Einige der Rädelsführer sollen einen „militärischer Arm“ geführt haben, mit dem der demokratische Rechtsstaat auch auf Ebene der Gemeinden, Kreise und Kommunen „beseitigt“ werden sollte. Dabei sei der Gruppe bewusst gewesen, dass es dabei zu Toten hätte kommen können. Das aber sei als notwendiger Zwischenschritt zur Erreichung des von ihr angestrebten „Systemwechsels auf allen Ebenen“ zumindest billigend in Kauf genommen worden.

Dabei klingt die Theorie, der die Beteiligten nachhängen sollen, wie aus einer anderen Welt. Laut der Bundesanwaltschaft handelt es sich dabei um eine krude Mischung aus typischen Reichsbürger-Thesen und Verschwörungsmythen der QAnon-Bewegung, die ursprünglich aus den USA stammt. Sie seien der festen Überzeugung, dass Deutschland derzeit von Angehörigen eines sogenannten „Tiefen Staats“ regiert wird. Eine Befreiung durch die „Allianz“, einen technisch überlegenen Geheimbund von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten einschließlich Russlands und der USA, stehe aber bevor. Das müsse man unterstützen und ausnützen - auch durch ein bundesweites Netz von Heimatschutzkompanien.

„Militärischer Arm“ sollte den Umsturz absichern

Auch Marco v.H. in Wöschbach habe dem militärischen Arm angehört, wollen die Ermittler wissen. Gegen 7.35 Uhr bringen ihn drei vermummte Bundespolizisten aus seiner Wohnung: Jeans, die Kapuze seines weißen Pullovers tief ins Gesicht gezogen, die Hände vor der Brust mit Handschellen gefesselt.

Auch er soll in der Vergangenheit aktiv gegen Ärzte gehetzt haben, die Impfungen gegen Corona anbieten. Offenbar ein weiteres Betätigungsfeld der Gruppe und ihres Umfeldes: Diverse Mediziner wurden massiv bedroht. Besonders ins Visier geraten war ein Kinderarzt in Bruchsal. Die Täter hatten ein Foto von ihm in eine Art TÜV-Plakette gesetzt und mit herabwürdigendem Text versehen. Das Ganze klebten sie an zahlreiche Laternenmasten in der gesamten Umgebung. Der Staatsschutz nahm Ermittlungen auf.

Besonders pikant: Offenbar stammen einige der Tatverdächtigen, bei denen es am frühen Mittwochmorgen Durchsuchungen gegeben hat, selbst aus dem medizinischen Umfeld. Nach Informationen unserer Zeitung gab es auch in Baden-Württemberg entsprechende Zugriffe.

Gefälschte Bewertungen im Internet

Inzwischen habe sich die Lage etwas beruhigt, sagt der Arzt: „Weitere Plakat- oder Aufkleberaktionen gegen mich hat es nicht mehr gegeben. Ich bekomme allerdings immer noch freundliche Post“, sagt er sarkastisch – und meint damit Postkarten mit Beschimpfungen. Der erfahrene Mediziner hat sich von den Vorfällen nicht unterkriegen lassen, betreibt die Praxis wie zuvor, muss auch keine dadurch bedingten Abgänge beim Personal beklagen.

Die Bundesärztekammer hat zur Bedrohung von Medizinern eine klare Meinung. „Ärztinnen und Ärzte sowie andere Gesundheitsberufe werden immer häufiger Opfer von verbaler und körperlicher Gewalt. Sie erhalten Drohanrufe, Anfeindungen über Briefe, SMS, Social Media oder E-Mail“, sagt Sprecher Samir Rabbata.

Besonders beliebt seien auch gefälschte Bewertungen im Internet – etwa dann, wenn Mediziner Patientinnen und Patienten darauf hinweisen, die Coronaregeln einzuhalten, oder sie nach ihrem Impfstatus befragen. „Mitunter erfordert dies sogar Polizeischutz für Praxisteams oder Klinikambulanzen. Auch in den Notfallambulanzen kommt es immer wieder zu Übergriffen auf das Personal. Solche Übergriffe führen zu Verunsicherung und Angst. Sie gefährden nachhaltig die vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung“, so der Sprecher.

Coronaleugner als Risiko für Ärzte

Zur Gewalt gegen Ärzte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gibt es keine genauen Zahlen. „Aber die Berichte aus den Kliniken und Praxen häufen sich“, so der Sprecher der Bundesärztekammer – und fordert gegenüber unserer Zeitung Konsequenzen: „Um das Problem angehen zu können und in den Griff zu bekommen, muss man um dessen Größe wissen. Wir brauchen ein Meldesystem, um die Fälle zahlenmäßig zu erfassen.“ Das Bundeskriminalamt schätzt Impfgegner und Coronaleugner als „relevantes Risiko“ für mit der Impfung betrautes medizinisches Personal ein.

Das Personal des Baden-Württembergischen SEKs beendete seinen Einsatz am Mittwochmorgen gesund. Die Männer in ihren olivgrünen Kampfanzügen, Helmen und Gewehren besteigen ihren Panzer, mit dem sie an das Haus herangefahren waren. Im April war einer von ihnen schwer verletzt worden, als ein mutmaßlicher Reichsbürger bei einer Razzia auf die Elitepolizisten schoss.

Anm. der Redaktion: In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es, Maximilian Eder habe sich eine Vergangenheit in Calw angedichtet. Richtig ist, dass Maximilian Eder – wie am 08.12.22 berichtet – dem Stab des KSK angehörte. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.