Bei Arbeiten am Turm der Esslinger Franziskanerkirche machten Arbeiter um die Jahrtausendwende einen überraschenden Fund: Im maroden Mauerwerk verbarg sich eine Zeitkapsel. Das Stadtmuseum zeigt jetzt den Inhalt.
Er blickte weit über den eigenen Kirchturm hinaus. Karl Kaiser lieferte der Nachwelt umfassende Details und spannende Einblicke zum Leben im Jahr 1908. Der Schieferdeckermeister hat Mitteilungen zu seinem Umfeld, zur Wirtschaftslage sowie der politischen und sozialen Zustände seiner Zeit aufgeschrieben, das Papier in eine Kapsel gesteckt und sie in den Turm der Franziskanerkirche beim Neuen Blarer in Esslingen gesteckt. Bei Renovierungsarbeiten an dem Gotteshaus kamen sie letztmals 2002 zu Tage. Die Turmkapsel wird im Esslinger Stadtmuseum „Gelbes Haus“ am Hafenmarkt ab Dienstag, 7. Januar, zu sehen sein.
Jammern hat kein Zeitlimit. Gejammert wird immer. Auch Karl Kaiser fühlte sich seinerzeit nicht wie ein Kaiser. Wirtschaftlich gehe es nicht gut, hat er dem Papier in der Turmkapsel aus der Franziskanerkirche anvertraut: „Der Geschäftsgang, der in den Jahren 1904 und 1906 fast nicht zu bewältigen war, hat 1907 ziemlich nachgelassen.“ Tagelöhner und „geringere Arbeiter“ hätten unter der Wirtschaftslage zu leiden. Mit Realitätssinn hat der patente Handwerker die Preise für wichtige Waren aufnotiert: Drei Mark müssten für den Zentner Mostobst hingelegt werden. Der Wein gedeihe in diesem Jahr „besonders gut an der Neckarhalde von Stuttgart bis Plochingen“. Den Preis für 300 Liter gibt er mit mindestens 220 Mark an.
Auf die Stadt Esslingen geht Karl Kaiser in seinem Lagebericht aus dem Jahr 1908 nicht ein. „Das kann daran liegen, dass er kein gebürtiger Esslinger ist, sondern aus Steinach in Thüringen stammt“, vermutet Lena Kirchner vom Esslinger Stadtarchiv, in dessen Fundus sich das Dokument aus der Turmkapsel befindet. Württembergischen Lokalpatriotismus hat der Nicht-Württemberger aber dennoch: Dank dem Grafen Ferdinand von Zeppelin mit seinem lenkbaren Luftschiff nehme Württemberg den ersten Platz bei den glücklichen Ereignissen ein. Auch das Unglück bei Echterdingen im August 1908 habe „das Vertrauen zu Herrn Zeppelin nicht erschüttern“ können.
Auch mit Blick auf die weltpolitische Lage kann sich Karl Kaiser im Gegensatz zu seinem Herummäkeln an der wirtschaftlichen Entwicklung in seinem Text ein wenig Optimismus abringen: So sehe die Welt soweit friedlich aus, besonders in Deutschland und ganz Europa. Der Schreiber konnte natürlich nicht wissen, dass bereits sechs Jahre später der mörderische Erste Weltkrieg Europa und Deutschland in einen Abgrund stürzen würde. Karl Kaiser berichtet in seinem Schriftstück auch vom Fortgang der Bauarbeiten an der Franziskanerkirche, einer „seit vielen Jahren unbenutzt dastehenden Barfüßerkirche“. Das alte Schieferdach sei abgenommen worden, die Ziegel, die noch gut waren, habe man wiederverwendet.
Bericht zur Lage der Nation
Seine Aufzeichnungen sah Karl Kaiser nicht als Tagebuch zum persönlichen Gebrauch an. Er wollte der Nachwelt bewusst seine Mitteilungen zukommen lassen und einen umfassenden Einblick in die damalige wirtschaftliche und politische Lage geben. Darum steckte er das Dokument in eine Kapsel und verbarg diese im Turm der Franziskanerkirche. Bei Arbeiten im Jahr 1962 kam sie laut Kirchner erstmals zum Vorschein. Die Finder und Verantwortlichen ergänzten das Schreiben um weitere Dokumente und deponierten es erneut in der Turmkapsel. Eines der Schriftstücke ist laut Kirchner eine Art Urkunde, die inhaltlich ähnlich aufgebaut ist wie das Schreiben von 1908. Das andere Dokument sei ein Bericht über die damalige Zeit. Ein dritter Text wurde schon 1908 hinzugefügt und enthält eine Nennung der an der Kirchensanierung beteiligten Arbeiter.
Diese Dokumente wurden im Turm der Franziskanerkirche verwahrt – bis zum Jahr 2002. Bei Renovierungsarbeiten wurden die Papiere erneut freigelegt. Nun sollten sie dem Vergessen entrissen und sicher für die Nachwelt bewahrt werden. Aus konservatorischen Gründen wurde beschlossen, die Texte künftig im Stadtarchiv aufzubewahren: „Auf diese Weise sollen die schriftlichen Zeitzeugen möglichst lange erhalten bleiben“, sagt Lena Kirchner.
Die Franziskanerkirche hat nicht immer himmlische Zeiten erlebt. Nach der Reformation war das im 13. Jahrhundert errichtete Gotteshaus von 1531 an für ganz unterschiedliche Zwecke genutzt worden. Nach Kirchners Recherchen hatte es im 18. Jahrhundert als Gewehrmagazin gedient, 1840 waren Teile des Gebäudes wegen Baufälligkeit abgerissen worden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand es sich in einem schlechten Zustand. Nach jahrzehntelanger Diskussion um den Erhalt des noch bestehenden Chores wurde 1906 die Instandsetzung der Reste der Kirche beschlossen. Mit an den Restaurierungsarbeiten beteiligt war der Schieferdeckermeister Karl Kaiser, der, wohl auch von historischem Sendungsbewusstsein geleitet, die Gunst der Stunde nutzte, seinen Lagebericht abgab und sich auch ein wenig Jammern über die wirtschaftliche Lage gestattete.
Ein Dokument mit persönlicher Note
Dokument
Bei dem Schreiben von Karl Kaiser aus der Turmkapsel in der Franziskanerkirche handelt es sich laut Lena Kirchner vom Stadtarchiv Esslingen um ein „Ego-Dokument“. Der Name leite sich von dem lateinischen Wort „Ego“ für „Ich“ ab: „Das ist eine Quelle, aus der man die persönliche Sicht des Schreibenden erfährt.“ Manche dieser Dokumente wie Briefe oder Tagebücher seien häufig nur für einen begrenzten Personenkreis gedacht gewesen und würden der Nachwelt oft nur zufällig überliefert: „Dahingegen wird diese Urkunde von ihrem Verfasser bereits in der konkreten Absicht erstellt, so Lena Kirchner, den Menschen in der Zukunft etwas über die Lebenswirklichkeit seiner Zeit mitzuteilen.“
Exponat
Unter dem Titel „Historische Schätze“ zeigen die Städtischen Museen Esslingen Objekte und Neuerwerbungen. Zudem werden Schätze aus dem Fundus des Stadtarchivs und des Esslinger Geschichts- und Altertumsvereins präsentiert. Die Objekte sind vom ersten Dienstag des Monats an im Stadtmuseum„Gelbes Haus“ am Hafenmarkt in Esslingen zu sehen.
Mehr zu dem Stadtmuseum „Gelbes Haus“ unter www.museen.esslingen.de.