Der Tatort in Reutlingen. Foto: dpa - Archivbild dpa

Wer ist wirklich psychisch krank und wer tut nur so, um eine geringere Strafe zu bekommen? Der psychiatrische Gutachter Peter Winckler aus Tübingen setzt vor Gericht auf Zeugenaussagen von Freunden und Bekannten der Angeklagten, um Lügen zu entlarven.

Tübingen (dpa/lsw) - Der forensische Psychiater Peter Winckler hat im Dönermesser-Prozess am Landgericht Tübingen ein Gutachten über den Angeklagten erstellt. Er hat dem 22-Jährigen nicht geglaubt, dass dieser Stimmen höre, und so ein Geständnis ausgelöst. Wie schwer es für Winckler ist, Lügen zu entlarven, erklärt er im Interview.

Herr Winckler, Sie sind seit über 20 Jahren als psychiatrischer Gutachter aktiv. Kommt es inzwischen öfter vor als früher, dass Angeklagte psychische Krankheiten vorspielen?

Winckler: Eine Steigerung kann ich nicht erkennen. Dass Angeklagte nicht die Wahrheit sagen, ist ein Phänomen seit es Strafprozesse gibt. Zum einen gibt es das Weglassen, die berühmt berüchtigte Erinnerungslücke. Zum anderen die Übertreibung einer psychischen Störung oder der Alkohol- oder Drogenintoxikation - wir haben ja eine Rechtsprechung, die berauschte Täter privilegiert. Eine Konstellation wie im Reutlinger Fall habe ich aber noch nie erlebt, wo der Angeklagte nach meinem Gutachten gesagt hat, okay, ich habe alles erfunden. Normalerweise bleiben Simulanten bei ihrer Geschichte und schütteln den Kopf über ein Gutachten, das ihren Intentionen entgegensteht.

Wie schwer ist es für Sie, vorgespielte Krankheiten zu durchschauen?

Winckler: Man kommt als Psychiater an seine Grenzen, wenn sich jemand lange darauf vorbereitet, sich belesen hat oder wenn jemand durch Psychatrieerfahrung Krankheitsbilder aus eigener Anschauung kennt. Es ist mir daher wichtig, mich nicht nur mit dem zu beschäftigen, was der Proband mit erzählt, sondern Aussagen von Zeugen miteinzubeziehen. Denn die meisten psychischen Erkrankungen hinterlassen Spuren im Umfeld. Freunden, Kollegen, der Familie fällt auf: Da verändert sich jemand. Der Reutlinger Fall war allerdings im Endeffekt doch recht einfach zu durchschauen, weil vieles, was vom Angeklagten vorgebracht wurde, weder zum Krankheitsbild noch zu den Zeugenaussagen passte.

Ihre Gutachten entscheiden über einige Jahre Haft mehr oder weniger - wie gehen Sie mit der Verantwortung um?

Winckler: Man muss die Verantwortung akzeptieren. Wer daran zerbricht, macht so einen Beruf nicht. Was mich manchmal mehr plagt als die Gutachten im sogenannten Erkenntnisverfahren, das heißt vor einer Vereurteilung, sind die Prognosegutachten: Darf jemand aus dem Gefängnis raus oder bleibt er drin? Da schwebt das Damoklesschwert über einem, entweder eine falsch negative oder eine falsch positive Prognose zu treffen - dann geht unter Umständen die Tür für einen langjährig inhaftierten Straftäter auf, und stellen Sie sich vor, es passiert dann doch was. Aber ich versuche meine Arbeit möglichst gut zu machen.

ZUR PERSON: Peter Winckler (56) ist seit über 20 Jahren als Gerichtspsychiater tätig und hat nach eigenen Angaben über 1500 Gutachten erstellt. Er hat eine eigene Praxis in Tübingen.