Nach jahrelangen Verzögerungen wird im Dezember 1883 der neue Bahnhof (Foto um das Jahr 1900) in Betrieb genommen. Foto: Stadtarchiv Esslingen - Stadtarchiv Esslingen

In unserer EZ-Jubiläumsserie geht es diesmal um das Jahr 1883. In diesem bekommt Esslingen einen neuen Bahnhof – mit ganz ähnlichen Problemen wie heute.

Esslingen - Das Jahr 1883 wird weltpolitisch von England und Frankreich bestimmt. England untermauert seinen Anspruch auf Ägypten durch die Ansiedlung der Familien der Besatzungssoldaten, Frankreich besetzt weitere Gebiete in Westafrika, festigt seine Herrschaft über Vietnam und beginnt mit der Besetzung Madagaskars. Das Deutsche Reich hält sich offiziell noch zurück, doch die Wirtschaft bereitet die ersten Schritte zur Kolonialpolitik vor. Der Kaufmannsgehilfe Heinrich Vogelsang erwirbt im Mai im Auftrag des Bremer Tabakhändlers Adolf Lüderitz vom Volk der Nama an der Südwestküste Afrikas eine Bucht sowie fünf Meilen Hinterland und gründet einen Handelsposten. Daraus entsteht ein Jahr später die Kolonie Deutsch-Südwestafrika.

Innenpolitisch bringt das Jahr die Grundlagen einer modernen Wirtschafts- und Sozialordnung mit sich. Im Mai wird in Hannover der Allgemeine Deutsche Handwerkerbund gegründet. Damit erhält das Handwerk in einer Zeit weitgehender Gewerbefreiheit eine Lobbyorganisation. So wird in den Statuten die Einführung obligatorischer Innungen für Handwerksberufe festgelegt und eine Revision der Gewerbeordnung, besonders beim Ausbildungs- und Gesellenwesen, gefordert. Zur Wahrung der Standesinteressen und von Fachstandards werden Arbeitsbücher für Gesellen und Beschränkungen des Handels mit Handwerkserzeugnissen durch Fachfremde verlangt.

Für die Arbeiter in der Industrie bricht eine neue Ära an. Aufgrund oft katastrophaler Arbeitsbedingungen und miserabler Bezahlung gärt es in der Arbeiterschaft trotz aller Repressionen durch das Sozialistengesetz, in den Industrieregionen herrscht Massenelend. Geleitet von der Überlegung, durch sozialpolitische Maßnahmen die Arbeiterbewegung zu schwächen, mögliche revolutionäre Umtriebe zu verhindern und damit den Zusammenhalt des Staats zu sichern, beschließt der Reichstag am 15. Juni ein Gesetz über die Krankenversicherung für gewerbliche Arbeiter, die nicht mehr als 2000 Mark jährlich verdienen. Bezahlt werden die Beiträge zu zwei Dritteln von den Arbeitern selbst und zu einem Drittel vom Arbeitgeber.

In Esslingen geht indes eine lange Hängepartie zu Ende. Nüchtern und ohne den Spott der vergangenen Jahre berichtet die Eßlinger Zeitung: „Der neue Bahnhof ist mit Ablassung des Personenzugs um 9 Uhr 41 Min. nach Stuttgart in Benützung genommen worden, nachdem Tags zuvor mit theilweiser Benützung der Nachtstunden die Uebersiedelung der verschiedenen Bureaus, einschließlich der Hauptpost, in die neuen Räume stattgefunden hatte.“

Der Berichterstatter lobt das neue Bauwerk für seinen „wohlthuenden, etwas großartig gehaltenen Eindruck“ und die prächtige Gestaltung der Räume. So ist der „Wartsaal 2. Klasse mit eleganten geschweiften Möbeln ausgestattet“ und „erhält seine Beleuchtung von 2 hübschen Candelabern, derjenige der 3. Klasse von 2 prachtvollen Lüstres“.

Ganz ohne Kritik lässt die Zeitung den Bahnhof allerdings nicht durchgehen. „Die Kassen-Räume finden wir etwas dunkel, um 10 Uhr sahen wir dort noch Gas brennen.“ Und der eher nachlässige Umgang mit der allgemeinen Sauberkeit am Bahnhof scheint kein Phänomen der Neuzeit zu sein. So berichtet die Eßlinger Zeitung, dass „man erst den Total-Eindruck würdigen“ könne, „wenn namentlich auch der vordere Zugang zum neuen Gebäude etwas reinlicher als bisher sich repräsentirt“.