Gehen, wenn es am schönsten ist: Weltmeisterin Selina Jörg – in unserer Bildergalerie finden Sie die Erfolge der goldenen Snowboard-Generation auf einen Blick. Foto: imago/Eibner

Ausgerechnet in Berchtesgaden, wo ihre Karriere begann, nimmt Doppelweltmeisterin Selina Jörg an diesem Wochenende Abschied: Warum die Spätzünderin nicht darauf brennt, nun auch noch in Peking Gold zu holen.

Berchtesgaden/Stuttgart - In der Karriere von Spitzensportlern gibt es viele Herausforderungen. Eine der größten wartet ganz am Ende: wenn es darum geht, den richtigen Zeitpunkt für den Abschied zu finden. Schön soll dieser Moment sein, emotional, berührend. Und gleichzeitig sollte keinesfalls das Gefühl zurückbleiben, womöglich ein Ziel verpasst zu haben, für das man allemal noch gut genug gewesen wäre. Selina Jörg (33) ist seit 16 Jahren Snowboarderin, sie hat viele Kolleginnen gehen sehen, manche nach Verletzungen oder Formtiefs, nicht alle freiwillig. Deshalb hat sie entschieden, auf dem Höhepunkt aufzuhören. Und es fühlt sich richtig an. „Irgendwann spürt man, dass es genug ist“, sagt die Doppelweltmeisterin von 2019 und 2021, „dann sucht man nur noch.“ Nach dem passenden Termin. Jetzt ist er gekommen.

An diesem Wochenende findet in Berchtesgaden das Weltcup-Finale für die Alpin-Snowboarder statt. Auf dem Götschen, dem Hausberg, hat Jörg die ersten Kinderrennen bestritten, ehe sie mit 14 ihr Elternhaus in Sonthofen verließ, um ins Sportinternat nach Berchtesgaden zu ziehen. Dort, wo ihre Zeit als Profisportlerin begann, geht sie nun auch zu Ende. „Für mich“, sagt Jörg, „schließt sich der Kreis.“ Nach einer Karriere, in der nicht immer alles rund gelaufen ist.

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Selina Jörg zählt zur goldenen Generation der deutschen Snowboarderinnen, die im Parallel-Riesenslalom und Parallel-Slalom bei Großereignissen immer wieder Medaillen eingefahren haben. Ihr Problem war, dass sie anfangs stets neben dem Treppchen stand, wenn andere jubelten: Isabella Laböck (34) wurde 2013 Weltmeisterin, Amelie Kober (33) holte fünf Olympia- und WM-Medaillen, Anke Karstens (35) gewann 2014 bei den Spielen in Sotschi Silber. Selina Jörg? Verlor wenigstens nicht den Glauben an sich selbst. „Ich wusste, dass ich nicht schlechter bin als die anderen“, sagt sie, „und ich war mir sicher, dass meine Zeit kommen wird.“ Sie sollte recht behalten.

Ledecká stiehlt Jörg die Show

Die Sonthofenerin galt seit je als ehrgeizig und trainingsfleißig, vor dem Olympia-Winter 2017/18 aber legte sie noch eine Schippe drauf. Sie verbesserte ihre Athletik, verschaffte sich neue Impulse, veränderte ihr Material. „Vor allem im Bereich der Bindungsplatten hat sich viel getan, außerdem bin ich im Riesenslalom auf ein fünf Zentimeter längeres Board umgestiegen“, erklärt Jörg, „alles miteinander hat sich ausgezahlt.“ Oder um es in den Worten von Snowboard-Sportdirektor Andreas Scheid zu sagen: „Danach ist sie richtig abgegangen.“

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Erst holte Jörg in Pyeongchang Olympia-Silber im Parallel-Riesenslalom, was nur deshalb nicht zur ganz großen Schlagzeile wurde, weil der Tschechin Ester Ledecká Einmaliges gelungen war: Nach Gold im Super-G auf Skiern eine Woche zuvor hatte sie nun auch Gold auf dem Snowboard gewonnen, wurde so zu einem der Superstars dieser Winterspiele. Selina Jörg freute sich trotzdem riesig über ihre Medaille – und bei den nächsten beiden Weltmeisterschaften stand sie dann alleine im Fokus. 2019 in Park City sicherte sie sich Gold im Parallel-Riesenslalom, 2021 in Rogla verteidigte sie ihren Titel und holte zudem Bronze im Parallel-Slalom. Kurz danach erklärte sie, dass nach der Saison Schluss sein wird. „Ich bin stolz darauf, so lange durchgehalten zu haben“, sagt Selina Jörg, „und ich bin dankbar, dass ich diese erfolgreichen Jahre erleben durfte.“

„Die Luft ist raus“

Dabei hätte es ja noch eine Steigerung geben können, schon in elf Monaten finden die Winterspiele in Peking statt. Allerdings ohne die Spezialistin für Großereignisse, die in ihrer Karriere nur drei Siege im Weltcup einfuhr, jedoch in ihren letzten drei Jahren eine Olympia- und drei WM-Medaillen gewann. Jetzt aber brennt die Spätzünderin nicht mehr. „Es fehlt mir die 100-prozentige Überzeugung, die nötig wäre“, erklärt die studierte Wirtschaftspsychologin, die im nächsten Sommer im Fahrradgeschäft ihres Freundes in Immenstadt arbeiten wird, „die Luft ist raus, der Rücktritt total richtig.“ Auch wenn alles nicht ganz so einfach wird.

Selina Jörg geht jedenfalls davon aus, dass am Wochenende in Berchtesgaden reichlich Tränen kullern werden. Einige davon wird Ramona Hofmeister (24) beisteuern. Sie ist, nachdem die Letzte aus der goldenen Generation geht, nun die einzige deutsche Weltklasse-Snowboarderin: „Selina wird eine riesengroße Lücke hinterlassen. Sie ist nicht zu ersetzen, weder sportlich noch menschlich“, sagt Hofmeister, „eine Familie wird auseinandergerissen.“ Wie es eben so ist, wenn große Karrieren zu Ende gehen.

In unserer Bildergalerie finden Sie die Erfolge der goldenen Generation auf einen Blick.