Gegen die Wahl von Thomas Kemmerich protestierten Tausende Thüringer auf den Straßen. Foto: dpa/Martin Schutt

Auch ein Jahr nach der Wahl des ersten Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD sprechen Beteiligte in Erfurt noch immer von einer Überraschung. Kann derselbe Fehler also wieder passieren?

Erfurt - Was ist der Unterschied zwischen Thomas Kemmerich und Annegret Kramp-Karrenbauer? Kemmerich hat auch ein Jahr nach der „Katastrophe von Thüringen“ noch ein Spitzenamt in seiner Partei inne. Er ist, heute wie damals, Landes- und Fraktionschef seiner Thüringer FDP. Dabei ist er der erste Politiker, der sich in der Bundesrepublik mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen – und die Wahl ohne Bedenken annahm.

Kemmerich nimmt die Wahl sofort an

Als die Landtagspräsidentin Birgit Keller das Ergebnis des dritten Wahlgangs im Erfurter Landtag verkündet, blickt der amtierende Regierungschef Bodo Ramelow versteinert. Er hat 44 Stimmen. Nach wenigen Sekunden dringt aus der AfD-Fraktion Jubel. „Auf den AfD-Kandidaten entfielen null Stimmen“, hat Birgit Keller da gerade gesagt – und: „Auf den FDP-Kandidaten entfielen 45 Stimmen.“

Kemmerich, die Arme auf sein Pult gestützt, schnaubt. Die Frage, ob er die Wahl annimmt, beantwortet er ohne Zögern mit Ja. Er ist mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD ins Amt gewählt worden. Es ist die Landespartei um den radikal rechten Fraktionschef Björn Höcke. Der Tabubruch von Thüringen führt dann zu einem politischen Beben.

Der Druck ist so stark, dass sogar Angela Merkel gleich zwei elementare politische Spielregeln außer Kraft setzt: Obwohl sie in Südafrika auf Reisen ist, meldet sie sich zur Innenpolitik zu Wort. Und als Kanzlerin äußert sie sich zu einer demokratisch getroffenen Wahlentscheidung in einem Landtag: Der „unverzeihliche“ Vorgang müsse „rückgängig gemacht“ werden, so Merkel. Annegret Kramp-Karrenbauer sieht sich nach einer erfolglosen Reise zur Erfurter CDU-Fraktion gezwungen, den Vorsitz der CDU zur Verfügung zu stellen. Auch FDP-Chef Christian Lindner gerät ins Taumeln. Er hat vor der Wahl gesagt, kein FDP-Politiker lasse sich von der AfD ins Amt wählen.

Merkel interveniert aus Südafrika

Die Gefahr war allen bewusst

Schon in den Tagen danach sprechen viele von einer Überraschung. Auch ein Jahr danach ist die Erzählung, man sei praktisch von der Wirklichkeit überrumpelt worden, noch eine der gängigen Erklärungen. So sagt zum Beispiel Thomas Kemmerich heute, er bedauere, dass er in der Sekunde vor der Annahme der Wahl keine Auszeit genommen habe. „Ich war mehr als überrascht. Ich habe damit nicht gerechnet.“ Dabei war es angesichts der Ausgangslage und der Diskussionen eigentlich ein ebenso realistisches wie gefährliches Szenario.

Das Risiko gingen die Parteien gemeinsam ein

Seit der Wahl drei Monate zuvor war klar, dass das rot-rot-grüne Bündnis mit 42 Stimmen keine Mehrheit hat, genau wie alle anderen üblichen Koalitionen. Die Konstellation ließ die Brandmauer nach rechts in der CDU bröseln, einige Abgeordnete plädierten für eine Zusammenarbeit mit der AfD. Als Ramelow beschloss, sich mit seinem Bündnis zur Wahl zu stellen, stellte die FDP ihren Kandidaten auf – und die AfD, die die Schwachstelle erkannte, tat dasselbe. Auch wenn es noch nie passiert ist, dass eine Fraktion einen eigenen Kandidaten nicht wählt, gehen dieses Risiko am Ende alle demokratischen Parteien gemeinsam ein.

Die zentralen Probleme bleiben

Was sind die Lehren ein Jahr später? Die CDU hat sich personell neu aufgestellt und auf einen „Stabilitätsmechanismus“ geeinigt, der eine projektbezogene Mehrheit garantiert. Die FDP bildete eine Arbeitsgruppe, die Strategien für den Umgang mit der AfD formulierte.

Zwei zentrale Probleme bleiben: Sowohl die CDU als auch die FDP leben in Thüringen mit der Tatsache, dass ein Teil ihrer Anhängerschaft nichts gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD einzuwenden hat. Die viel beschworene Brandmauer hat große Risse. Auch an den Mehrheiten hat sich in Thüringen jüngsten Umfragen zufolge nichts Wesentliches verändert – und so stellen sich nach wie vor dieselben Bündnisfragen. Die CDU hat auf Bundesebene ihren Unvereinbarkeitsbeschluss, der eine Zusammenarbeit sowohl mit der AfD als auch mit der Linken untersagt. Noch ist in Thüringen Zeit. Die Neuwahl wurde wegen der Pandemie auf den 26. September verschoben und findet zeitgleich mit der Bundestagswahl statt. Schon im Juni wählt Sachsen-Anhalt, dort könnte die Diskussion über eine Machtoption mit Hilfe der AfD zuerst aufflammen.