Scholz neigt zu schwierigen Erklärungen. Die Sprache gilt als seine Schwäche. Da können die Berater für ihn noch sooft griffige Wörter wie „Doppelwumms“ kreieren. Foto: Imago//Malte Ossowski/Sven Simon

Seit genau einem Jahr ist Olaf Scholz Bundeskanzler. Was hat er geleistet, was muss er noch leisten? Zeit für eine Bilanz.

Lieber Jens, schön, dich hier im Kanzleramt willkommen zu heißen“, sagt Olaf Scholz zu Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Du bist ein häufiger Gast“, fährt der Kanzler fort und dreht sich zu dem Norweger. Die beiden lachen sich kurz gegenseitig ins Gesicht, Stoltenberg etwas offensiver, Scholz eher verschmitzt. Für seine hanseatische Art sieht das beinahe euphorisch aus. Ein gern gesehener Gast sei Stoltenberg zudem, fügt Scholz hinzu.

Scholz spricht schnell, während er im Takt von je einigen Sekunden vom Pult aufblickt. Deutschland werde seine Unterstützung für die Ukraine fortsetzen, „solange es nötig ist, politisch, finanziell, humanitär und auch weiter mit der Lieferung der notwendigen Waffen“. Klar sei und bleibe auch, „dass die Nato nicht selbst Kriegspartei wird, denn das würde zu einer Eskalation mit unübersehbaren Folgen für den gesamten Planeten führen“.

Ein Jahr Ampel – der Ausnahmezustand ist der Normalfall geworden

Der Kanzler setzt routiniert seine Betonungen. Ohne Schnörkel. Ein bisschen wie ein Stadtführer oder ein Lehrer, der überzeugt ist von dem, was er sagt, es aber immer wieder erzählen muss. Das Bekenntnis zu Waffenlieferungen, die Warnung vor der Katastrophe, wenn man nicht umsichtig agiere: Das ist alles Routine in diesen Zeiten.

Seit genau einem Jahr ist Olaf Scholz Kanzler der Bundesrepublik Deutschland – am 8. Dezember 2021 wurde er im Bundestag gewählt und vereidigt. Scholz wollte den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen. Das hat er getan. Seine Partei, die SPD, wollte, dass er Hartz IV durch ein Bürgergeld ablöst. Auch das hat er, mit Abstrichen, hinbekommen. Doch seit dem 24. Februar, seit der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, ist für keinen der Beteiligten in der Bundesregierung noch irgendetwas, wie es einmal gedacht war. Der Ausnahmezustand ist der Normalfall geworden.

Wie geht der Kanzler damit um? Wie führt er das Land durch eine Krise, die nicht nur die Sicherheitsarchitektur der gesamten Welt verändert hat, sondern – wegen knapper Energie – auch eine echte Bedrohung für den Wohlstand in Deutschland ist?

Willy Brandt gilt als Visionär, Helmut Schmidt wird heute als Pragmatiker verehrt, der nie um eine Antwort – und sei es eine garstige – verlegen war. Über Olaf Scholz wurde in der Vergangenheit oft selbst in der eigenen Partei gespottet, er sei langweilig wie eine Büroklammer. Eben, sagten Unterstützter immer, die Deutschen lieben Büroklammern. Der Mann könne Wahlen gewinnen. Am Ende behielten sie recht.

„Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“

Ein Mann ohne Eigenschaften, wie Scholz oft hämisch genannt wurde, ist er nicht. In seinem Fall haben, neben anderen Eigenschaften, drei besonders ausgeprägte Merkmale ihm auf seinem Weg nach ganz oben geholfen. Sie prägen auch seine Arbeit als Kanzler. Erstens ist Olaf Scholz ein Politiker, der seine jeweilige Rolle immer genau annimmt. Als SPD-Generalsekretär hat er – in abschreckend gestanzter Sprache – stets die Agenda 2010 des Kanzlers Gerhard Schröder verteidigt. Als Hamburger Bürgermeister hat er sich nach starken Wahlergebnissen selbst zu einer Art Alleinherrscher gemacht. Jetzt ist Scholz Kanzler einer Ampelkoalition, also eines komplizierten Bündnisses von SPD, Grünen und FDP, in dem die politischen Unterschiede oft groß sind.

„Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“, so lautet ein legendäres Zitat aus Scholz’ Zeit in Hamburg. In der Ampelkoalition lässt Scholz seinen Bündnispartnern viel Raum – sonst hätte er sie womöglich gar nicht erst zustande gebracht. Wie viel Scholz schon während der Koalitionsverhandlungen in die Beziehungsarbeit mit den Spitzenleuten der anderen Parteien investiert haben muss, war bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages zu beobachten.

Dort setzte FDP-Chef Christian Lindner plötzlich zu einer Eloge auf Scholz an, dieser sei eine „starke Führungspersönlichkeit“. Lindner drehte sich direkt zu Scholz und attestierte ihm „ein inneres Geländer“, um das Land aus einer klaren Werthaltung nach vorn zu führen. In der Schule hätte man ihn vielleicht einen Schleimer genannt. Scholz öffnete kurz den Mund, als wäre er nicht sicher, ob er etwas sagen soll. Dann ließ er das Lob gern stehen.

So viel Wertschätzung ist politisch nicht kostenlos. In der Debatte über die Corona-Impfpflicht verzichtete Scholz auf eine gemeinsame Linie der Regierung – aus Rücksicht auf die FDP. Der Kanzler, der sich klar für eine Impfpflicht positioniert hatte, scheiterte im Parlament. Gleichzeitig hat sich immer wieder gezeigt: Die Achse Scholz-Lindner funktioniert – auch dann, wenn es großen inhaltlichen Streit zwischen den Parteien gibt.

Machtdemonstration sieht anders aus

Und was ist mit dem Machtwort des Kanzlers? Hat er etwa nicht im Streit über die Laufzeiten der Atomkraftwerke ausdrücklich von seiner im Grundgesetz vorgesehenen Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht? Doch, das hat er. Aber in Wirklichkeit hat er damit auch nur ein Machtwort gesprochen, das – ausgesprochen oder unausgesprochen – bestellt war.

Grüne und FDP konnten sich nicht einigen, wie lange die verbliebenen drei Meiler noch weiterlaufen sollte. Ihre beiden wichtigsten Vertreter, Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sowie Christian Lindner (FDP), hätten kaum noch zur eigenen Parteibasis gehen können und sagen, dass sie nachgegeben haben. Scholz’ Entscheidung – alle drei Kernkraftwerke können bis 15. April 2023 am Netz bleiben – half beiden. Der Kanzler teilte seine Entscheidung schriftlich mit. Eine Machtdemonstration sieht anders aus.

Er kann viel aushalten

Die zweite wichtige Eigenschaft von Olaf Scholz ist seine, nun ja, vergleichsweise ausgeprägte Temperaturarmut. Der Kanzler kann zwar sehr bewegend über die Liebe zu seiner Frau sprechen. „Ich glaube, dass ich ein ganz anderer Mensch wäre, wenn ich nicht mit Britta Ernst verheiratet wäre“, hat er formuliert. Durch sie sei er „eindeutig“ ein besserer Mensch geworden.

Als Politiker ist der Kanzler einer, dessen Emotionen selten hochschießen. Das ist oft ein Vorteil etwa im Umgang mit Koalitionspartnern, die sich auch mal auf Kosten des Kanzlers profilieren müssen. Am Ende muss man ja doch zusammen weiterarbeiten, da schadet zu viel Aufregung nur. Vermutlich ist es auch nicht die schlechteste Eigenschaft, wenn man gelegentlich mit Wladimir Putin telefonieren muss.

Würde Scholz auch nur im Entferntesten zu Kurzschlusshandlungen neigen, wäre er ziemlich genau zwei Jahre, bevor er Kanzler wurde, aus der Politik ausgestiegen. Damals, Ende November 2019, stand er im Willy-Brandt-Haus in Berlin auf der Bühne. Er musste tief Luft holen, bevor er sprach. Scholz hatte gerade den Kampf um den Parteivorsitz verloren – gegen einen Politpensionär und eine Hinterbänklerin, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. „Alles Gute“, sagte Scholz noch – und musste dann für die beiden, die damals politische Nobodys waren, an den Rand der Bühne rücken.

Scholz ist zäh. Er kann viel aushalten, ohne auch nur darauf zu reagieren. Das ist die dritte Eigenschaft, die sich in seiner Arbeit als Kanzler bemerkbar macht. Zwar hat er als Kanzler nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine schnell das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg gebracht. Doch gleichzeitig hat er sich in der Debatte über die Lieferung bestimmter Waffen an die Ukraine nie zu schnellen Entscheidungen drängen lassen – auch wenn der öffentliche Druck groß war.

Vom vorsichtig formulierenden Scholz fühlen sich Zuhörer allein gelassen

Hätte Scholz die eigene Haltung nicht zumindest schneller und besser erklären müssen? Die Sprache ist ohnehin seine Schwäche. Da können ihm die besten Berater noch sooft griffige Worte wie den Doppel-Wumms aufschreiben oder die Zeile „You’ll never walk alone“. Vom vorsichtig formulierenden Scholz fühlt sich der Zuhörer oft alleingelassen. In Interviews in englischer Sprache klingt er deutlich klarer. Da hat er eben weniger Worte zum Ausweichen zur Verfügung.

In Scholz’ Fähigkeit zur Dickköpfigkeit liegt auch die Gefahr, dass ihm das Sensorium dafür fehlt, wenn etwa die Hilfen in der Energiekrise nicht so funktionieren, wie sie sollen. Die Selbstgewissheit des 64-Jährigen, die manche auch Hybris nennen, dürfte vermutlich noch einmal größer geworden sein durch die Erfahrung seiner Wahl. Viele Monate lang waren die Umfragewerte für die SPD verheerend, praktisch niemand in der Öffentlichkeit glaubte daran, dass Scholz Kanzler werden würde. Er wirkte in dieser Zeit trotzdem wie einer, den man jederzeit nachts um drei wecken könnte – und der sofort sagen würde: „Ich will Kanzler werden. Und ich gewinne auch.“

Scholz‘ Selbstbild dürfte sein, dass er die Dinge immer von hinten denkt

Ein wichtiger FDP-Politiker sagt, Scholz neige wie Angela Merkel dazu, erst einmal lange abzuwarten. Scholz’ Selbstbild dürfte sein, dass er die Dinge immer von hinten denkt. In der SPD sagen manche über ihn, er sei sehr intelligent, aber er wisse das auch ein bisschen zu gut.

Doch auch derjenige, der sich für besonders klug hält, möchte gelegentlich einfach mal gelobt werden. „Deutschland gehört zu den Bündnismitgliedern, die das höchste Maß an finanzieller, militärischer und humanitärer Hilfe für die Ukraine bereitstellen“, sagt der Nato-Generalsekretär, der „liebe Jens“, bei seinem Besuch im Kanzleramt.

Scholz’ Rede vor dem Bundestag, in der dieser erstmals für das Sondervermögen der Bundeswehr eintrat, lobt Stoltenberg als „historisch“. Das sei ein echter Wendepunkt gewesen. Scholz streckt Stoltenberg zum Abschied seine Hand weit entgegen – und lacht ihm ins Gesicht. Diesmal ist es euphorisch. Wirklich.