Günther Oettinger war Ministerpräsident und EU-Kommissar. Foto: imago/ Future Image/Christoph Hardt

Der ehemalige EU-Energiekommissar Günther Oettinger rät von einem Boykott der russischen Gaslieferungen ab. Er setzt als temporäre Lösung auf Stromerzeugung aus Braunkohle und Atomenergie – auch wenn er weiß, dass die Energiewende damit verzögert wird.

In die Debatte über die Sinnhaftigkeit eines Importstopps von Gas und Öl aus Russland mischt sich Günther Oettinger ein. „Ein Gasboykott wäre der falsche Weg, da bin ich der gleichen Meinung wie Olaf Scholz und Robert Habeck“, sagt der ehemalige Energiekommissar der Europäischen Union gegenüber unserer Zeitung und rät dazu, die Erdgasversorgung über die Pipeline Nord Stream 1 fortzuführen.

Sanktionen sind zweischneidig

Für energieintensive Wirtschaftszweige wie die deutsche Stahl- und Kupferherstellung, die chemische oder pharmazeutische Industrie müsse man über ausreichende Energiemengen verfügen. „Die BASF braucht mehr Energie als der ganze Staat Dänemark“, betont Oettinger und warnt vor den Folgen eines Boykotts. „Sanktionen sollen denjenigen maßregeln, gegenüber dem man sie ausspricht. Sie dürfen aber nicht bei uns viel stärker wirken, als in Russland.“

Die deutsche Industrie würde durch eine Kappung der Versorgung gewaltige Schäden erleiden und das würde sich auf den Arbeitsmarkt auswirken. „Nichts wäre schlechter als Sanktionen jetzt mit dicken Backen zu beschließen und dann rutscht man in einem halben Jahr auf Knien nach Moskau.“

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Der Angriff Russlands auf die Ukraine könnte die Energiewende in Deutschland ins Stocken geraten lassen. Gaskraftwerke als Brückentechnologie wie im Koalitionsvertrag festgeschrieben seien fraglicher geworden, sagt Oettinger. „Wir sollten alles tun, um das alte Ziel der Diversifizierung zu verfolgen und zwar von Routen und von Quellen.“ Zwar gehöre den Erneuerbaren die Zukunft, aber in Zeiten eines Krieges in Europa und den damit einhergehenden Unberechenbarkeiten sei es sinnvoll, auf bereits vorhandene Ressourcen zu setzen.

Mehr Kohle und Atomenergie

Der CDU-Politiker und einstige Ministerpräsident in Baden-Württemberg plädiert dafür, eine Verlängerung der Laufzeiten der drei letzten Kernkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus zu prüfen, darunter auch Neckarwestheim II in Baden-Württemberg. Die Fachkräfte seien da, sagt er. „Da muss man halt ein paar bitten, dass sie statt am vierten Advent erst im Sommer nächsten Jahres gehen.“ Bei der Beschaffung der Brennstäbe könnten die Franzosen oder Amerikaner helfen. Und schließlich könne man unter bestimmten Voraussetzungen auch die Bestandsbrennstäbe ein Viertel Jahr länger in Betrieb lassen.

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Die Abkehr von der Atomkraft ist jedoch für Bundesumweltministerin Steffi Lemke eine beschlossene Sache. „Einem kleinen Beitrag zur Energieversorgung stünden große wirtschaftliche, rechtliche und sicherheitstechnische Risiken entgegen. Das wäre weder sinnvoll noch vertretbar.“

Längst nicht mehr so sicher ist, ob nicht auch der Zeitpunkt des deutschen Kohleausstiegs überdacht werden muss angesichts des Erdgasengpasses und den steigenden Energiepreisen. Er ist bis 2038 per Gesetz vorgesehen, die Ampelkoalition will ihn auf 2030 vorziehen, um die Treibhausgasemissionen schneller zu verringern. Oettinger verweist auf den Tagebau „Die RWE-Braunkohlekraftwerke könnten umweltunfreundlich, aber versorgungssicher sofort wieder Strom erzeugen.“ Ein Schritt, der für viele Verfechter der Energiewende schmerzhaft wäre, das weiß der 68-Jährige und hat selbst Bedenken. „Man mutet den Grünen schon viel zu“, sagt er, „Kohlekraftwerke und Kernkraftwerke, das sind für die Grünen Skylla und Charybdis zugleich.“