Karin Reichert-Frisch nahm zweimal an Olympischen Spielen teil, nach Tokio auch noch in Mexiko-City. Foto: Archiv/Baumann

Die Sprinterin Karin Reichert-Frisch hat bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio von der Verletzung einer Kollegin profitiert. Als kurios ist ihr der Rückflug in Erinnerung geblieben.

Filder - Wie oft Karin Reichert-Frisch bei den Olympischen Sommerspielen 1964 in Tokio die „Becher-Hymne“ heimlich geprobt und dann nachts in den Duschanlagen des Wohnblocks im Olympischen Dorf geschmettert hat, weiß die heute 80-jährige Leichtathletin nicht mehr genau. Die Gesangseinlage ist indes das Erste, was der gebürtigen Stuttgarterin auf die Frage einfällt, was sie denn als Olympionikin in Tokio Kurioses erlebt habe. Bei der „Becher-Hymne“ handelt es sich um die Nationalhymne der DDR, deren Text, „Auferstanden aus Ruinen“, aus der Feder eines gewissen Johannes R. Becher stammt.

Warum Karin Reichert-Frisch, die in Tokio noch unter ihrem Mädchennamen Frisch startete und Mitglied beim SV Stuttgarter Kickers war, diese Hymne sang, ist schnell erklärt: Wie schon 1956 in Melbourne und 1960 in Rom traten die deutschen Athleten offiziell als gemeinsame Mannschaft an – obwohl es zwei deutsche Staaten gab. In der Praxis dann waren West und Ost strikt getrennt. Vor allem die ostdeutschen Funktionäre hätten mit Argusaugen über ihre Athleten gewacht. „Trotzdem gab es ein paar wenige, die den Kontakt zu uns suchten und nachts auf unser Stockwerk kamen“, sagt Karin Reichert-Frisch. „Und da haben wir dann eben dieses Lied gesungen und viel Spaß gehabt.“ Der kleine Chor bestand nur aus Frauen, weil es in Tokio anders als heute zwei olympische Dörfer gab: eines für weibliche und eines für männliche Sportler.

Ausgestattet „wie zu einer Hochzeit“

Überhaupt waren die Spiele für die Sprinterin ein Freudenfest. Das fing schon mit der Einkleidung an. „Wir sind wie zu einer Hochzeit ausgestattet worden“, sagt Karin Frisch-Reichert. Von der Unterhose bis zur Zahnbürste habe es an nichts gefehlt. Vor allem an das rosa Kostüm, mit dem die deutschen Athletinnen bei der Eröffnungsfeier am 10. Oktober in das mehr als 70 000 Zuschauer fassenden Olympiastadion einliefen und mit dem man der japanischen Kirschblüte huldigen wollte, kann sie sich gut erinnern. Aber auch an das olympische Feuer. Das wurde von Yoshinori Sakai entzündet, der am 6. August 1945 geboren wurde, an dem Tag, an dem die erste Atombombe auf Hiroshima fiel. Das sei schon etwas ganz Besonderes gewesen. „Ich weiß noch, wie stolz ich bei dem Einmarsch und bei der gesamten Zeremonie war“, sagt Karin Reichert-Frisch.

Schlüsselerlebnis als Teenager

Schon als Teenager hatte sie den Traum von einer Olympia-Teilnahme. Das Schlüsselerlebnis kam mit den Spielen 1956. „Ich habe damals eine Reportage im Radio gehört, und da wuchs in mir der Wunsch in einer solchen Intensität, wie ich sie selten erlebt habe“, erzählt Karin Reichert-Frisch. Um sich diesen großen Wunsch zu erfüllen, kam sie 1963 aus den USA zurück, wo sie knapp vier Jahre lang gearbeitet hatte. Sie wollte sich in der Heimat ihren deutschen Konkurrentinnen stellen.

Dass es schwer werden würde, sich ein Olympiaticket zu ergattern, wusste die Schwäbin. „Ich hatte in Amerika ja nur ein bisschen trainiert. Aber ich wollte es probieren. Sonst wäre ich sicherlich länger in Amerika geblieben“, sagt Karin Reichert-Frisch. Der Trainingsrückstand erwies sich jedoch als zu groß. Und so wurde die damals 23-Jährige, nachdem sich im innerdeutschen Ausscheidungsrennen in Jena die westdeutsche 4 x 100-Meter-Staffel mit Renate Meyer-Rose, Erika Pollmann, Martha Pensberger und Jutta Heine gegen die Ostkolleginnen durchgesetzt hatte, nur als Staffel-Ersatzläuferin mitgenommen. Über 100 Meter und 80 Meter Hürden, ihre beiden Spezialdisziplinen, konnte sie sich nicht durchsetzen.

Den Start fast verschlafen

In Tokio wurde dann aber Meyer-Roses Pech zu Reichert-Frischs Glück. Die Startläuferin aus Hannover verletzte sich im Einzelrennen, und so stand plötzlich Karin Reichert-Frisch für die Staffel auf der Bahn – und hätte den Start fast verschlafen. „Ich war von der Kulisse so angetan. Zum Glück ist mir noch eingefallen, dass ich loslaufen muss“, sagt sie und lacht. Am Ende belegte das deutsche Quartett in 44,7 Sekunden hinter Polen, den USA, Großbritannien und der Sowjetunion den fünften Rang.

Auch wenn Karin Reichert-Frisch eine Medaille also versagt geblieben ist, kam sie mit einer Trophäe nach Hause: dem Trikot von Wyomia Tyus, die sich über die 100-Meter-Strecke in 11,49 Sekunden den Olympiasieg sicherte. „Wir haben getauscht. Wir kannten uns noch aus meiner Zeit in Amerika“, sagt die Stuttgarterin. Außerdem im Gepäck: unzählige Pins, die die Athleten ebenfalls untereinander getauscht hatten. Das sei der große Renner gewesen. Diese Mitbringsel habe sie heute noch in irgendeinem Karton – genauso wie das Trikot von Tyus.

Schweinebraten statt Sushi

Nicht vergessen hat Karin Reichert-Frisch den Rückflug. Und das nicht nur, weil es plangemäß sieben (!) Zwischenstopps gab. Obwohl die deutschen Olympioniken einen deutschen Koch bei den Spielen dabei hatten, sei am Ende die Sehnsucht nach Schweinebraten und Sauerkraut riesengroß gewesen. Das Problem: an Bord hatte die Lufthansa nur 15 Portionen. Schließlich hätten die Stewardessen jene geteilt, erinnert sich Karin Reichert-Frisch: „Dann hatten wir 30 zufriedenen Athleten.“ Vor allem die kräftigen Werfer seien darunter gewesen. Für die habe Sushi, das es immer bei den offiziellen Einladungen gab, gerade mal einen Appetitanreger dargestellt.

Alles in allem hat Karin Reichert-Frisch die Spiele in Tokio als besonders schöne in Erinnerung – was die Ursprünglichkeit sowie die allgemeine Leichtigkeit und Fröhlichkeit betrifft. „Ich bin dankbar für die Zeit“, sagt sie.

Zur Person Karin Reichert-Frisch

Karin Reichert-Frisch wurde am 17. Januar 1941 als drittes von vier Kindern unter ihrem Mädchennamen Frisch in Stuttgart geboren. Nach der Mittleren Reife besuchte sie die Dolmetscherschule, ehe sie 18-jährig für vier Jahre in die USA ging und als Fremdsprachen-Korrespondentin arbeitete. 1968 heiratete sie den 20 Jahre älteren Hans Ulrich Reichert, der als Sendeleiter, Produzent und Produktionschef beim Süddeutschen Rundfunk tätig war und im Februar 2018 verstarb. Das Hobby des Paares war das Ballonfahren. Karin Reichert-Frisch, die heute in Stuttgart-Berg lebt und gerne schwimmt, hat eine Tochter und vier Enkel.

Außer in Tokio nahm Karin Reichert-Frisch, die mit zwölf Jahren beim SV Stuttgarter Kickers mit der Leichtathletik begonnen hatte, auch an den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-City teil. Im Vorfeld befand sie sich in Bestform. „Es hätten meine Spiele werden können“, sagt Reichert-Frisch im Rückblick, die sich dann aber im finalen Trainingslager in Arizona einen Muskelfaserriss zuzog. An den Start ging sie trotzdem, schied über 100 Meter jedoch im Vorentscheidungslauf aus. Höhepunkt ihrer Karriere waren die Europameisterschaften 1966, bei denen sie, inzwischen als Athletin des SV Salamander Kornwestheim, zweimal Silber und einmal Bronze gewann. Im gleichen Jahr wurde sie in der Bundesrepublik zur „Sportlerin des Jahres“ gewählt. (sd)

Tokio 1964: Ost-West-Wettrüsten und ein neuer „König“

Tokio 1964 steht für einen Einschnitt. Und das nicht nur, weil es die ersten Sommerspiele außerhalb von Europa und Nordamerika waren. Es waren auch die ersten, bei denen das Thema Doping zum wirklichen Thema wurde. Es waren mit Investitionen von annähernd drei Milliarden Dollar die bis dahin mit Abstand teuersten. Und es waren die Spiele, die mehr von politischen Einflüssen geprägt waren als alle anderen zuvor. Angefangen bei dem im sportlichen Wettrüsten ausgedrückten Ost-West-Konflikt – Sowjetunion gegen USA. Im Medaillenspiegel lagen am Ende die Amerikaner knapp vorn. Über den Ausschluss mehrerer Nationen wie China, Süd- und Nordkorea sowie Südafrika, im letztgenannten Fall wegen der dortigen Rassenpolitik. Bis hin zur deutschen Situation. BRD und DDR traten letztmals unter einer Flagge an – was nichts daran änderte, dass durch das Team ein tiefer Graben ging. Vorausgegangen waren interne Ränkespiele und Nominierungsstreitigkeiten.

Die Stars? Der gerade mal 18-jährige US-Schwimmer Dan Schollander gewann viermal Gold. Im Turnen krönte Larissa Latynina ihre Karriere. Bob Hayes sprintete die 100 Meter als erster Mensch unter zehn Sekunden. Als Weltrekord wurden seine 9,9 aber nicht anerkannt, weil er zu viel Rückenwind hatte. Und in Deutschland stieg Willi Holdorf zum Helden auf, nämlich als „König der Athleten“. In einem dramatischen Finish wurde der Holsteiner Zehnkampf-Sieger. (frs)