Der Berg bewegte sich zuletzt schneller als bisher. Der Kirchturm steht bereits seit Längerem schief. Foto: Steffen Rometsch

Weil ein massiver Felssturz ihre Häuser und Wohnungen bedroht, müssen die rund 80 Einwohner der Berggemeinde Brienz im schweizerischen Graubünden ihr Zuhause verlassen – möglicherweise für immer. Zeit für die Evakuierung bleibt nur wenig.

Es ist ein trüber Tag an diesem Donnerstagmorgen in dem kleinen Dorf Brienz im schweizerischen Kanton Graubünden. Der Nebel wabert über die Wiesen des auf etwa 1100 Meter zwischen Lenzerheide und Davos gelegenen Hochplateaus im Albulatal, es nieselt, ist nasskalt – so ungemütlich, dass man das Haus eigentlich nicht verlässt, wenn man nicht muss. Doch die Bewohner von Brienz haben keine Wahl. Sie müssen ihre Wohnungen und Häuser verlassen, für Wochen oder Monate, vielleicht für immer. Die Wolken hängen so tief, als wollten sie die Menschen, die hier leben, vor dem Blick auf die Schreckenswand über ihrem Dorf bewahren. Doch was da hinter den Wolken droht, hat sich längst fest in die Gedanken der Bewohner eingebrannt: ein Felssturz von gigantischem Ausmaß.

Drei Tage bleiben den Bewohnern, um ihr Hab und Gut zu packen

Zwei Millionen Kubikmeter Felsmaterial drohen auf das etwa 85 Einwohner zählende Bergdorf zu stürzen – das entspricht dem Volumen von etwa 2000 Einfamilienhäusern. Drei Tage bleiben den Bewohnern, um ihr Hab und Gut, das ihnen wichtig ist, zu packen: Papiere, Kleider, Möbel, Haustiere – alles. Am Dienstagnachmittag haben die örtlichen Behörden die Gefahrenstufe für das Dorf von Gelb auf Orange gestellt – und damit die Evakuierung eingeleitet.

Lautes Muhen allerorten erfüllt den Stall von Annette Bonifazi am Ortsausgang von Brienz. Nach und nach werden 32 Mutterkühe und ihre Kälber auf Viehtransporter verladen. Sie kommen auf einen befreundeten Hof in Cazis, etwa 15 Kilometer entfernt. Auch für ihre Schafe, Esel und Hühner haben sie und ihr Mann Georgin, die den Hof in dritter Generation betreiben, auf verschiedenen Höfen im Tal eine Bleibe gefunden, aber es zerreißt ihr schier das Herz. „Wir konnten uns vorbereiten, packen die Koffer und gehen“, sagt sie, „für die Tiere ist es viel schlimmer, sie merken, dass was nicht stimmt, haben Stress.“ Annette und Georgin ziehen mit ihren vier Kindern vorübergehend zu ihrer Mutter ins benachbarte Lenzerheide.

Immer wieder fahren jetzt Autos mit vollgepackten Anhängern oder Transporter Richtung Dorfausgang. Hie und da werden noch Möbel verladen, untermalt immer wieder vom Rumpeln und Rauschen abstürzenden Gerölls. „Diese Geräusche sind die Brienzer seit Jahren gewohnt“, sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin.

Doch die Lage hat sich zuletzt dramatisch zugespitzt. Oberhalb des Dorfes seien bis zu zwei Millionen Kubikmeter Felsmaterial in Bewegung, berichtet der Leiter des Frühwarndienstes, Stefan Schneider. Die Gesteinsmassen bewegen sich nach den Messungen zwei- bis dreimal so schnell wie noch vor wenigen Wochen. Mittlerweile ist die Frage demnach nicht mehr, ob die Geröllmassen ins Tal stürzen, sondern nur noch, wann und wie. Fest steht nur: Bis zu diesem Freitagabend um 18 Uhr müssen die Einwohner ihre Häuser und Wohnungen im Dorf räumen. Übernachten darf niemand mehr.

Aktuell bewegt sich das Dorf rund einen Meter pro Jahr

Das Dorf Brienz ist seit Menschengedenken in Bewegung. Die gesamte Plateauterrasse rutscht vermutlich seit der letzten Eiszeit talwärts. In den vergangenen hundert Jahren waren es nur jeweils wenige Zentimeter pro Jahr. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Bewegung aber stark beschleunigt: Aktuell beträgt die Bewegung des Dorfs rund einen Meter pro Jahr. Der Turm der Kirche steht leicht schief, Straßen brechen auf oder sinken ab, Risse gehen durch Häuser und Ställe. Dass der Felsbereich namens „Insel“ oberhalb des Dorfes gefährlich ist, war seit Jahren bekannt. Schon 2017 verfügte das kantonale Amt für Wald- und Naturgefahren, dass im Dorf keine Neubauten mehr errichtet werden dürfen.

Ein weiterer Grund für die rasche Evakuierung ist das Wetter. „Bis zum Sonntag soll es täglich Niederschläge geben“, sagt Simon Löw, emeritierter Professor für Ingenieurgeologie an der Universität ETH Zürich, im Schweizer Fernsehen. „Das kann die Rutschgeschwindigkeit noch erhöhen.“ Unklar ist indes, wie das Gestein zu Tal rutscht und wie stark Schutt und Geröll das Dorf treffen. Es kann viele kleine Felsstürze geben, oder es kommt – im schlimmsten Szenario – zu einem Bergsturz, bei dem die Geröllmasse mit bis zu 200 Stundenkilometer wie eine Lawine ins Tal rast. „Dann wäre das Geröll in 30 Sekunden im Dorf, und das Dorf ist zerstört“, beschreibt Löw die nicht ausgeschlossene Variante.

Die Solidarität im Tal ist groß. „Wir haben mehr als 140 Wohnungen angeboten bekommen“, sagt Gemeindepräsident Albertin. „Wir hoffen schwer, dass wir wieder in Brienz wohnen können. Wann, wissen wir nicht.“

Klimawandel begünstigt Felsstürze

Geologie
Im Kern lässt sich das Phänomen in Brienz so erklären: In der Region ruht hartes Gestein auf dem weichen Flysch-Schiefer. Zudem befindet sich im Erdinneren viel Wasser. Der Klimawandel spielt laut Experten keine Rolle für den drohenden Felssturz. „Hier gibt es keinen Permafrost, der auftaut“, sagt Simon Löw, emeritierter Professor für Ingenieurgeologie an der ETH Zürich.

Permafrost
Allerdings dürften Felsstürze in Permafrostgebieten künftig deutlich häufiger auftreten. „In solchen Orten ist der Klimawandel wesentlich und fördert geologische Massenbewegungen“, sagt Löw.