„Im Gespräch“ (von links): Susanne Koch, Winfried Kretschmann, Johannes M. Fischer, Mariia Ivanishyna und Martin Peters. Foto: Roberto Bulgrin

Der Ministerpräsident und der Eberspächer-Chef beklagen steigende Ansprüche der Arbeitnehmer. Die Agenturchefin und eine Studentin sehen die guten Aussichten für den Einzelnen. Unterschiedliche Perspektiven treffen bei „Im Gespräch“ von Kreissparkasse und Eßlinger Zeitung zusammen.

Trotz Konjunkturflaute und Stellenabbau bei Großunternehmen: In vielen Betrieben und Behörden in der Region fehlt Personal. Daraus ergeben sich Gefahren für die einen und vielleicht auch die Allgemeinheit – und Chancen für Arbeitnehmer. Und zwar auch für jene mit unterschiedlichsten Handicaps. „Im Gespräch“, eine Veranstaltungsreihe von Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen und Eßlinger Zeitung, hat in hochkarätiger Besetzung verschiedene Perspektiven zusammengebracht. Auf dem Podium im Neckar-Forum in Esslingen saßen am Donnerstagabend die Studentin Mariia Ivanishyna, Susanne Koch von der Agentur für Arbeit Baden-Württemberg, Eberspächer-Chef Martin Peters sowie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Ein Abend mit „viel Hoffnung“ und einem „Schuss Pessimismus“, wie Moderator Johannes M. Fischer, Chefredakteur der Eßlinger Zeitung, bilanzierte.

Die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer stritten zwar nicht, doch ihre unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema wurden deutlich: Vom Ministerpräsidenten, dem zu der Forderung nach einer 20-Stunden-Woche – wie mitunter von seinem eigenen Parteinachwuchs gefordert – nach eigener Aussage „nichts mehr einfällt“. Bis zur Studentin, die deutlich macht, vor welchen Hürden ausländische Fachkräfte stehen, weil in vielen Unternehmen Deutsch die Arbeitssprache ist – und es im Gegensatz zu anderen Ländern schwierig ist, sich mit Englisch durchzuschlagen.

Eberspächer-Chef sieht zunehmende Teilzeitarbeit kritisch

Dass der Arbeitskräftemangel zur Gefahr für den Wohlstand in Deutschland werden kann, betonten insbesondere die Männer auf dem Podium. Der Ministerpräsident mahnte jedoch, in der Debatte nicht zu dramatisieren: Die Reden von einer Deindustrialisierung seien „hochgradig überzogen“. Der Blick auf die Lage sei je nach Unternehmen kein einheitlicher. „Problematisch finde ich aber, wenn Forschung und Entwicklung nicht bei uns bleiben“, sagte Kretschmann. „Umso mehr müssen wir gucken, dass wir ein attraktiver Wirtschafts- und Arbeitsstandort bleiben.“ Der Grünen-Politiker betonte, Deutschland sei nicht das einzige Land in Konkurrenz um Arbeitskräfte. Zugleich schärfte er das Bewusstsein dafür, dass deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht mehr den Innovationsvorsprung von einst haben. „Die Chinesen greifen auf Augenhöhe an und schaffen Tag und Nacht dafür.“ In diesem Sinne warf Kretschmann auch einen kritischen Blick auf die Arbeitnehmerseite: „Es herrscht teilweise die Meinung, wir sind reich und es kann uns nichts passieren.“ Zugleich müssten Arbeitgeber den Mitarbeitenden Flexibilität gewähren für familiäre Aufgaben in der Erziehung oder Pflege.

Martin Peters macht bei Eberspächer die Erfahrung, dass selbst viele Berufseinsteiger weniger arbeiten wollen. „Wenn wir etwas schaffen wollen, ist aber nicht das Heruntersetzen der Arbeitszeiten und der Effizienz der richtige Weg.“ Der geschäftsführende Gesellschafter des Esslinger Automobilzulieferers hat den Eindruck, über die Coronazeit sei bei vielen die Lust an der Arbeit verloren gegangen. „Da müssen wir gesellschaftlich gegensteuern.“ Peters konstatiert, dass sich in seinem Unternehmen die Anzahl der Bewerbungen seit 2019 halbiert habe, Bereitschaft und Fähigkeiten der Aspiranten hätten abgenommen. Die Besetzung einer Stelle dauere im Schnitt sechs Monate. Dennoch nimmt das Familienunternehmen nicht jeden, um die Leistung nicht runterzuziehen. „Arbeitsplatzerhaltung ist kein Selbstzweck“, sagt Peters. „Unser Herz schlägt in Esslingen, aber wenn wir hier das nötige Zukunftspotenzial nicht erschließen können, müssen wir ausweichen. Was wir nicht wollen.“

Agenturchefin: Viele Jugendliche kennen neue Berufe nicht

Eine andere Haltung mit Blick auf die Bewerberinnen und Bewerber brachte Susanne Koch von der Bundesagentur für Arbeit aufs Podium. Die Geschäftsführerin Operativ der Regionaldirektion Baden-Württemberg forderte, alle Potenziale zu heben und auch leistungsschwächeren Jugendlichen eine Chance zu geben, indem diese beim Übergang von der Schule in den Beruf stärker gefördert werden. „Wir können es uns nicht leisten, dass knapp 20 Prozent der Jugendlichen ohne Ausbildung bleiben“, so Koch. Zugleich räumt sie mit dem Bild auf, alle jungen Leute wollten Profifußballer oder Influencer werden. Vielmehr klingen die Topzielberufe der jugendlichen Bewerber – darunter Mechatroniker und Bürokauffrau – recht bodenständig. Die Berufswünsche seien seit zehn Jahren stabil, obwohl sich am Arbeitsmarkt viel getan habe. „Das Spektrum der neuen Berufe muss an die jungen Leute noch mehr rangebracht werden.“

Dagegen haben die Wirtschaftsinformatikstudentin Mariia Ivanishyna und ihre Kommilitonen von der Hochschule Esslingen ihr Studienfach durchaus danach ausgewählt, was vom Arbeitsmarkt verlangt wird. „Die IT-Branche ist riesig. Ich hoffe, es gibt einen Platz für mich.“ Immer wieder betont Ivanishyna ihr Ziel, mit ihrer Arbeit auch der deutschen Gesellschaft zu helfen – beispielsweise in puncto Digitalisierung, womit ihr Heimatland Ukraine viel weiter sei. Doch die junge Frau macht sich auch Sorgen mit Blick auf ihr bevorstehendes Praktikumssemester. „Ich habe Angst, was ist, wenn ich um eine Stelle mit einem Kandidaten mit gleichen fachlichen Fähigkeiten konkurriere, der Deutsch als Muttersprache spricht.“

Perspektiven auf den Fachkräftemangel

Susanne Koch
 „Die Arbeitskraftpotenziale zu heben, wird uns gelingen, wenn alle Akteure zusammenarbeiten“, sagt die Expertin von der Agentur für Arbeit. Im Land stünden 40 Berufe auf der Engpassliste. Die Agentur berät Betriebe zu Alternativen, wenn Stellen nicht mit dem geplanten Bewerberprofil zu besetzen sind.

Martin Peters
 Sein Unternehmen, der Autozulieferer Eberspächer, sucht früh den Nachwuchs auf, knüpft Kontakte mit Schulen und Hochschulen. „Es wird immer mühsamer und aufwendiger, Personal zu finden. Aber das tun wir.“ Das lohne sich, Eberspächer sei in vielen Berufen besser in der Besetzung geworden.

Winfried Kretschmann
„Den einen Hebel gibt es nicht“, sagt der Landesvater. Man müsse auf vielen Gebieten ansetzen, etwa Fachkräfteeinwanderung beschleunigen. Künstliche Intelligenz sieht er als Chance: „Arbeiten, die nicht besonders sinnstiftend sind, werden dadurch ersetzt.“ Qualifizierte Jobs nähmen zu.