Erdogan mit Betroffenen der Katastrophe im Erdbebengebiet. Foto: Turkish Presidency/APA Images vi

Wegen der Erdbebenkatastrophe scheint in Urnengang schwer denkbar – regiert Erdogan einfach weiter?

In drei Monaten sollen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Aber vor dem Hintergrund der Erbebenkatastrophe wachsen die Zweifel, ob es bei dem Termin bleibt. Staatschef Erdogan könnte versuchen, die Wahlen abzusagen und einfach weiter zu regieren.

Noch steht die Türkei im Bann der Jahrhundertkatastrophe, die vor zehn Tagen über das Land hereinbrach. Es wird Wochen, vielleicht Monate dauern, bis die Bergungsmannschaften alle Toten geborgen haben. Und die Frage wird immer dringender: Kann unter diesen Umständen gewählt werden?

1,5 Millionen Menschen sind obdachlos

In der Katastrophenregion, die immerhin zehn Provinzen mit 13,5 Millionen Einwohnern umfasst, ist angesichts der großen Zerstörungen aus heutiger Sicht ein geordneter Urnengang kaum vorstellbar. 1,5 Millionen Menschen sind obdachlos, Hunderttausende in andere Landesteile abgewandert.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich seit dem Beben zum Thema Wahlen nicht geäußert. Kurz vor der Katastrophe nannte er den 14. Mai als Wahltermin. Aber mit dem Beben haben sich die Voraussetzungen für ihn verändert – zum Negativen. Seit Monaten verzeichnete die Regierungspartei AKP wegen der desolaten Wirtschaftslage schlechte Umfragewerte. Die Mehrheit der AKP im Parlament schien genauso ungewiss wie Erdogans Wiederwahl zum Präsidenten.

Kritik an chaotischem Krisenmanagement

Das gilt nun erst recht. Wegen des chaotischen Krisenmanagements und der nur langsam anlaufenden Hilfe für die Überlebenden ist die Regierung unter Druck. Das spricht aus Erdogans Sicht für eine Verschiebung der Wahl – in der Hoffnung, dass sich mit dem Wiederaufbau der verwüsteten Städte die Wut der Überlebenden legt.

Bülent Arinc, ein früherer Vizepremier und einflussreicher Politiker in der AKP, forderte bereits auf Twitter: „Die Wahlen müssen verschoben werden.“ Arinc deutete als möglichen neuen Wahltermin das Frühjahr 2024 an. Bis dahin soll Erdogan offenbar einfach weiterregieren.

Die Verfassung schreibt Neuwahlen vor

Laut Artikel 78 der Verfassung müssen die Wahlen allerdings spätestens am 18. Juni dieses Jahres stattfinden. Dann enden die Legislaturperiode und die Amtszeit des Präsidenten. Arinc argumentiert, die Verfassung sei „kein heiliger Text“. Das löste einen Proteststurm bei der Opposition aus. Sie spricht davon, Erdogan plane einen „Staatsstreich“, um an der Macht zu bleiben.

Theoretisch könnte das Parlament die Verfassung ändern. Dies aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit von 400 Stimmen. Die Regierung verfügt über 335 Mandate. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu lehnt eine Verfassungsänderung ab. An Erdogan gerichtet sagte er: „Dieses Land hat Ihnen 20 Jahre gegeben. Sie haben die Wirtschaft an die Wand gefahren. Jetzt hat uns das Erdbeben den Rest gegeben. Wir geben Ihnen kein weiteres Jahr, nicht einmal einen Tag.“